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Besprechung CD

Ligia Digital Lidi 0202256-13

3 CD • 3h 33min • 2008, 2010, 2012

14.06.2013

Künstlerische Qualität:
Künstlerische Qualität: 10
Klangqualität:
Klangqualität: 10
Gesamteindruck:
Gesamteindruck: 10

„Mit Wissen und Vernunft kommt man der Kunst um keinen Schritt näher. Durch Gnade tritt man in ihren Mittelpunkt.“ Wie sich’s wieder einmal in der köstlichen Polyphonie des sogenannten Schicksals fügte, fiel mir dieser Satz des österreichischen Literaten Richard von Schaukal just im selben Augenblick in die Hände, als ich die gegenwärtige und – gleich vorweg: einzigartige – Veröffentlichung erstmals von A bis Z durchgehört hatte und noch nach den geeigneten Worten suchte, um einer Besprechung derselben den meines Empfindens nach gehörigen Ausdruck zu verleihen. Gewiß ließe sich entgegnen, dass die eingangs zitierte Formel für jede Kunst gelte: Wer mit einer innern Ehrfurcht dem Werke entgegentritt und es nicht schon a priori als Objekt der intellektuellen Vivisektion auffaßt, der wird diesen Moment der Erkenntnis, der Erleuchtung – denn nichts anderes meint Schaukals Begriff der „Gnade“ – womöglich an den eigenartigsten Stellen erleben. Und gerade deshalb ist mir diese Produktion, die drei CDs der Jahre 2008, 2010 und 2012 zusammenfaßt, ein solch ungewöhnliches Exempel, denn es traf jemanden, der zwar auch mit einem gewissen Vergnügen den Werken der sogenannten Alten Meister zuzuhören im Stande, nicht aber von jeder barocken oder vorklassischen Kreation in Ekstase zu versetzen ist, so unmittelbar und vor allem so nachdrücklich, dass das Einzelne und das Gesamte mit der Zahl der Durchgänge in einer immer größeren Bereicherung resultierte – zu jener Art der Gemüthsergetzung, die ohne alle Umschweife durch jede vordergründige Rezeptionsebene hindurch ins Innerste zielt.

Beispielhaft ist diese nur persönlich erfahrbare Kommunikation hier vor allem auch deshalb, weil in der Akte des mozartisch-jung verstorbenen Jean Gilles – der Altersgenosse von François Couperin lebte gerade einmal bis 1705 – noch mancherlei zu korrigieren, justieren und zu entscheiden ist, was bei anderen Erscheinungen aus derselben Zeit längst zum aufführungspraktischen Allgemeingut wurde. Gleich das Requiem, nach allen Auskünften bis hin zu Johann Mattheson und noch weit darüber hinaus ein regelrechter Dauerbrenner, war von den verschiedenen Zutaten an Bläsern und Pauken zu bereinigen, die im Laufe des 18. Jahrhundert unter anderem von Michel Corrette zum Zwecke äußerer Wirksamkeit in die subtile, feingliedrige und gerade deshalb so unerhört fesselnde Originalinstrumentierung eingefügt wurden. Viele Recherchen, viele akribische Erwägungen waren gewiß auch bei den andern Dingen erforderlich – bei den beiden beglückend schönen Motetten und Lamentationen, bei der prächtigen „Messe en ré” und dem strahlenden „Te Deum“. Die richtige Wahl der Singstimmen, die Anordnung der Kräfte, die Auslotung des (gerade an der Grenze zur Überakustik balancierenden) Raumes, all das spielte zweifellos eine für die geglückten Aufnahmen bedeutende Rolle. Die eigentlichen Ein=Wirkungen sind damit freilich nicht erklärt, und wieder einmal stehen wir vor dem Phänomen, dass die Summe der Teile nichts mit dem Ganzen zu tun hat – eine Tatsache, an der nicht erst die sogenannte Musikpsychologie, sondern schon ihr früher Vorläufer, die rationalistische musikalische Affektenlehre, scheitern mußte. Gewiß, es gibt Wendungen und Gestalten, die „denen Kennern & Liebhabern” die jeweiligen Regionen des emotionalen Spektrums signalisierten, und ich will dem „Vollkommenen Capellmeister“ unseres eloquenten, höchlich bewunderten Johann Mattheson durchaus abnehmen, dass er hinter den Zahlen und Figuren nach tieferen, von mir aus „seelischen“ Wahrheiten suchte. Wie es dann aber kommt, dass der eine Tonkünstler, obwohl er alles nach dem Handbuche richtig macht, nur heiße Luft hervorbringt, während ein anderer, gesegnet mit der natürlichen Gabe eine großen Talents, einem glücklichen Midas gleich alles in tönendes Gold verwandelt – das wird immer nur zu finden sein, wenn wir uns auf das Kunstwerk vorbehaltlos einlassen. Die reizvollen Spekulationen: ob denn etwa der um mehr denn zehn Prozent tiefere Kammerton von 392hz, den Jean-Marc Andrieu und seine Musiker anschlagen, die über die Jahrhunderte immer größer gewordene Anspannung der Nerven verminderte, ob die in allen Partien grandios besetzten Soli sich dergestalt ins Gemüt schmeicheln, dass man den Werken nur erliegen kann; oder ob die immer organisch-bruchlosen Tempo- und Taktartenwechsel für diese exquisiten Leistungen hauptverantwortlich seien – sie alle sind als Teilaspekte, Segmente und Fragmente zu berücksichtigen. Den Bogen indes, der über die vierjährige Entstehungszeit der Produktionen hinweg aufrechterhalten blieb, muß wohl doch ein anderer gespannt haben: nämlich der, dessen spezifische Begabung gerade erst große Kreise zu ziehen begann, als ihn die körperlichen Kräfte verließen.

Man mag meinem anfangs zitierten Schaukal mit einer weiteren Feststellung desselben antworten, wonach nämlich „Kritik nur den Wert des Kritisierenden“ repräsentiert. Sollte sich dieser Eindruck aus dem Vorigen ergeben haben, wäre es mir leid: Jean Gilles und denen, die sein Œuvre hier mit solch fabelhaftem Gespür realisierten, gebührt das, was sich am Ende letztlich doch nur wieder in drei nüchternen Ziffern ausdrücken läßt. Und das mußte an dieser Stelle einmal gesagt sein.

Rasmus van Rijn [14.06.2013]

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Komponisten und Werke der Einspielung

Tr.Komponist/Werkhh:mm:ss
CD/SACD 1
Jean Gilles
1Requiem 00:43:04
8Cantate Jordanis incolae (Motette) 00:24:04
CD/SACD 2
1Première Lamentation pour le Mercredi saint au soir 00:21:02
7Première Lamentation pour le Jeudi saint au soir 00:12:15
11Première Lamentation pourle Vendredi saint au soir 00:10:49
15Diligam te Domine (Motette) 00:23:22
CD/SACD 3
1Messe en ré 00:44:29
18Te Deum 00:32:32

Interpreten der Einspielung

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