Liszt • Saint-Saëns • Ravel
Yevgeny Sudbin
BIS 1828
1 CD/SACD stereo/surround • 74min • 2009, 2010, 2012
20.12.2012
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
In diesem Fall unterschreibe ich liebend gerne eine der biographischen Zuspitzungen und Verallgemeinerungen: Bei Yevgeny Sudbin handelt sich unzweifelhaft um „eines der wichtigsten pianistischen Talente unserer Zeit"! Mit dem Begriff „Talent" greift der BIS-Herausgeber freilich eine Bewertungsschublade zu tief, denn der gebürtige St. Petersburger ist längst aus dem Talentbereich herausgewachsen, sofern man Talente nicht wie in uralten Zeiten als Wechselwert, sondern einfach als freie Bezeichnung für vergoldete Begabung im fortgeschrittensten Stadium der Meisterschaft interpretiert. Mit seinen Aufnahmen einiger Solowerke von Rachmaninoff und Skrjabin hat Sudbin Maßstäbe gesetzt, zumindest aber solche um einige Grade erweitert. Und auch seine Einführungstexte sind auffallend gewandt, kenntnisreich und bisweilen auch eigenwillig und amüsant.
Jetzt bietet er ein musikalisch wie technisch höchst anspruchsvolles und auch thematisch in mancher Hinsicht sinnvoll verknüpftes Programm mit Schlüsselwerken eines vor allem von Dichtung bestimmten Klavierzaubers. Werke von Liszt aus den Années de pelèrinage und den Harmonies poétiques et réligieuses bilden ein malerisches, hohe manuelle Brillanz forderndes und zugleich sublimierendes Gegengewicht zu Ravels Gaspard de la nuit. Zudem Franz Liszts Klavierbearbeitung von Camille Saint-Saëns' Danse macabre, mit dem – wie im Gibet-Abschnitt und den Funérailles – der Tod, der Tanz am Abgrund, das Sterben musikalisiert in Erscheinung treten.
Liszts Funérailles nimmt und verbreitet Sudbin in zumutbarer Schwere und Düsternis, nur vorübergehend melodisch schmerzlich erhellt. Die tiefen Glockentöne dröhnen unverschwommen, der trauernde Kondukt zieht in leichenblassem Gleichmaß sanft bewegt vorüber. Die auf Chopins As-Dur-Polonaise verweisenden Oktaven in der Unterwelt der Tastatur wirken als Farbe, als grollend intonierte Bedrohung, werden also nicht wie so oft als düstere Lockerheitsetüde für die linke Hand herausgeschleudert. Zwingend und bezwingend im Folgenden Sudbins Handhabe der drei in Manier und Aussage so unterschiedlichen Petrarca-Sonette. Alles kommt geordnet wie nach einem unausweichlichen Plan, wobei die schmückenden Passagen im Sonett 104 souverän in die übergeordnete Dramaturgie verwoben sind. Und dennoch ist ihnen eine gute Dosis an Glitzer und geschmeidigster Fingerartistik eigen. Ungemein spannend habe ich den Übergang vom besonders schwermütigen, leise fiebrigen Sonett 123 zum flackernden, gleichwohl klar gezeichneten Ondine-Beginn empfunden. Sudbin behandelt die drei Gaspard-Bilder bei aller Brillanz eine Spur beherrschter, das heißt: weniger explosiv als Martha Argerich oder auch Charles Rosen, hingegen elastischer, lebendiger als Benedetti Michelangeli – und raffinierter in der Ton- und akkordischen Farbgebung als so gut wie alle mir bekannten Versionen. Manches in der Strukturierung der dynamischen Steigerungen erinnert mich an die Decca-Einspielung von Vladimir Ashkenazy. Die reiche Palette an Anschlagsvarianten im Gibet-Teil scheint mir bei Sudbin bis ans Äußerste ausgeklügelter, gleichsam glühend kalter Differenzierung zu gehen.
Mit der Einspielung der Danse macabre trifft Sudbin im aktuellen Katalog auf die vor nicht langer Zeit erschienene Version mit Yuja Wang. Während sich die geradezu beängstigend brillante Chinesin auf die von Horowitz in vielen Details erweiterte – und bisweilen auch überlastete – Liszt-Fassung stützt, behandelt Sudbin die tänzerische Vorlage in einer Mischung aus Lisztschen Ideen, aber auch im guten Recht das Nachschaffenden unter Berücksichtigung eigener Vorstellungen. Sudbin: „Horowitz war zweifellos einer der größten Pianisten aller Zeiten, aber Liszt war ein besserer Komponist, und mehr Noten machen nicht unbedingt bessere Musik." Sudbin legt straffend Hand an die Durchführung, weil sie in der Orchesterfassung vor allem durch den Einsatz verschiedener Instrumente lebt. Aus ähnlichen Gründen ist bei ihm der Schluss gekürzt, „nachdem der Hahn gekräht hat". Der Vergleich mit der erwähnten Wang-Aufnahme gibt Sudbin Recht, denn bei ihr wirkt der tödliche Tanz trotz aller atemberaubenden Virtuosität dann doch ein wenig wie künstlich beatmet. Andere mir bekannte Deutungen reichen in keiner Hinsicht an die von Horowitz, Wang und jetzt von Sudbin heran, manche wie jene von Leslie Howard (Hyperion) darf man sogar ohne jedes Schuldgefühl vergessen.
Vergleichsaufnahmen: Danse macabre: Version Liszt/Horowitz: Horowitz (3.1932 Foné 90 F 12 CD), Yuja Wang (DG 479 0052), Kasprov (Art Classics 165), Risto-Matti (Alba ABCD 305); Version Liszt: L. Howard (Liszt-Edition Vol. 5 Hyperion CDA 66346), díAlbert (Autographe ADDA 158003/4/5 AD 384); Version Liszt/Margulis: J. Margulis (Oehms OC 545).
Peter Cossé † [20.12.2012]
Anzeige
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Franz Liszt | ||
1 | Les Funérailles S 173 Nr. 7 (aus: Harmonies poétiques et religieuses) | 00:10:55 |
2 | Etude Nr. 10 f-Moll (aus: Etudes d'execution transcendante) | 00:04:28 |
3 | Étude Nr. 11 Des-Dur (Harmonies du soir; aus: Douze Etudes d'exécution transcendante) | 00:08:41 |
4 | Sonetto del Petrarca Nr. 47 S 161:4 (aus: Années de pèlerinage duexième année – Italie, 1837/1849) | 00:04:39 |
5 | Sonetto del Petrarca Nr. 104 S 161:5 (aus: Années de pèlerinage duexième année – Italie) | 00:05:42 |
6 | Sonetto del Petrarca Nr. 123 S 161:6 (aus: Années de pèlerinage Deuxìeme année – Italie) | 00:06:30 |
Maurice Ravel | ||
7 | Gaspard de la nuit | 00:22:34 |
10 | Danse macabre op. 40 (Sinfonische Dichtung - Bearb. für Klavier) | 00:08:19 |
Interpreten der Einspielung
- Yevgeny Sudbin (Klavier)