Sony Classical 88697 98466 2
2 CD • 2h 24min • 2011, 2012
19.07.2012
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Mit Andrea Kautens Einspielungen, vor allem ihrer Schumann-Interpretationen für die schweizerische Sony-Sektion dürfte jeder kritische, an Tonträgerstoff gut ausgestattete Hörer einiges anfangen können. Ich hatte den Eindruck einer sorgfältig vorbereiteten Interpetin, die freilich nicht nach Sklavenart den in der Frühphase der Partiturerkundung gewonnenen Einsichten bis zum letzten musikalischen Atemzug folgt. Anders beschrieben und gelobt: immer geisterte, vibrierte auch ein Quentchen der Überraschung innerhalb der selbst gesteckten Grenzen in ihrem Spiel, was etwa die Darbietung des Carnaval zwar nicht zu umstürzlerischen, aber doch zu einem ganz eigentümlichen Erlebnis machte.
Das mit bestem Gewissen hier Gesagte kann ich nach eingehender Beschäftigung auch für einige Kapitel der vorliegenden Liszt-Aufnahmen feststellen. So gelingen Andrea Kauten die Petrarca-Sonette in einer überzeugenden Mischung aus unschuldigem Melos, aus mit Umsicht entfesseltem Pathos und in den intimeren Werkstationen mit angemessener Raffinesse. Es lodert also, wenn der stumm gelesene, sozusagen verinnerlichte Text nach heißem pianistischen Atem ruft. Es glitzert, wenn Liszt flinke, geschmeidige Finger in weiten Skalen, Doppelgriffgirlanden und schier duftenden Trillerketten ausführlich über die Tastatur schickt (wie etwa im Sonett 104!). Im Verlauf des inhaltlich intimeren und deshalb auch pianistisch weniger extrovertierten Sonett 123 fällt Andrea Kautens Vermögen auf, Spannung aus der Ruhe des Sinnierens, des motivischen und farblichen Abwägens zu erzeugen, gewissermaßen nach Innen zu spielen ohne dabei das Außen, also die architektonischen Bauteile eines Stückes außer Acht zu lassen.
Soviel zum Guten, denn in zwei der drei hier präsentierten Werke für Klavier und Orchester bewegt sich – oder verharrt! – die Musikerin auf einem Terrain, das meiner Meinung nach nicht oder nur bedingt in ihren Aufgaben- und Möglichkeitsbereich fällt. Gemeint sind Liszts (hoch)virtuose Paraphrase über das gregorianische Dies irae-Thema – in pianistischer Umgangssprache als Totentanz vertraut und gefürchtet –, sowie die Ungarische Fantasie. Es handelt sich um jene instrumental erweiterte Fassung der ebenfalls eingespielten Ungarischen Rhapsodie Nr. 14, die in ihren hauptthematischen, akkordisch breit angelegten Sequenzen vom Solisten so schwer auf Touren zu halten ist. Das heißt: in das massiv vom Orchester aufgetürmte Thema sollte der Pianist nicht nur die von Liszt notierten Akkordfolgen einfügen, sondern sich einige Freizügigkeiten erlauben – und dies in glaubhafter Erinnerung an den großen Improvisator, den Augenblicksmusikanten Franz Liszt, dessen gedruckte Noten ja nur eine von den Verlegern erwünschte und daher unvermeidliche Momentaufnahme darstellen. Schlag nach bei György (Georges) Cziffra, muss ich hier bitten, ja fordern! Denn er hat in seinen verschiedenen, wahrlich verschiedenen Live- und Studio-Interpretationen immer wieder gezeigt, wie man sich frei schaltend und waltend explosiv in den Orchesterpart einblenden kann, ihn sogar für Sekunden zum ärmlichen Mitstreiter an den Rand zu drängen vermag. Zwar investiert Andrea Kauten in dieser Passage etwas mehr an akkordischer Emphase als der bei dieser Gelegenheit völlig domestiziert wirkende Shura Cherkassky – der allerdings, da bin ich sicher, unter der Leitung von Karajan unbarmherzig zu sturem Kurs verdonnert war.
Ähnlich scheint mir die Problematik angelegt zu sein, wenn es beim turbulenten Finalgedanken mit seiner in repetierten Sekundschritten absteigenden Linienführung um rhetorische Abwechslung geht. Cherkassky entledigte sich dieser im Stück mehrfach geforderten Aufgabe, indem er sozusagen ohne nach Links und Rechts zu blicken, also sich schnurgerade in das nächste Ziel zu retten suchte. Sviatoslav Richter meißelte diese Phrase wie aus einem imaginären ungarischen Marmorbrocken heraus, den musikalisch-ethnischen Hintergrund dieser Musik – nämlich ihren adelig-zigeunerischen Doppelursprung – wider alles Wissens und Fühlens leugnend. Andrea Kauten gibt sich hier um Nuancen elastischer, weniger verbohrt und ungerührt als die beiden genannten Interpreten, aber es bleibt diese Fantasie bei ihr doch eher eine Übung nach Zucht und Ordnung.
Im Fall des Totentanzes muss ich bedauerlicherweise wie unter den Bedingungen einer Schauspielproduktion von einer Fehlbesetzung berichten. Gelingen Kauten anfangs die skelettartig, also klanglich völlig entfleischten, wild geschüttelten Akkordwechsel noch vielversprechend agil, so erlahmt ihr Vortrag in den folgenden Brio- und Schreckensvariationen erheblich. Es mangelt ihrem Spiel an Donner, an Bizzarie, eben an Risikobereitschaft, etwa den himmelwärts und zugleich via „Hölle" abstürzenden Oktaven den letzten Antrieb zu verleihen. Friedfertig eingezogene Krallen dann auch in den rasanten Tonrepetitionen, die von der linken Hand brillant zu kontrapunktieren sind. Dies und vieles andere an den Feuer- und Brandherden „zum Ende aller Tage" wirkt wie mit Vorsicht behandelt, zu sehr mit Umsicht kultiviert, als könnte man diesem Grenzwertstück des 19. Klavierjahrhunderts einiges an Gemeinheit, an Vulgarität nehmen. Ich wage jedoch zu behaupten, dass Andrea Kauten technisch und physisch hier überfordert ist – zu ihrem Trost sei angefügt: so wie die überwiegende Mehrzahl aller Dies irae-Beschwörer, vor allen Cziffra, Byron Janis und der junge André Watts ausgenommen.
Liszts im Vergleich zum Totentanz züchtige Malediction-Fantasie liegt für Andrea Kauten deutlich nehr im Bereich des Greifbaren und daher auch prägnanter Gestaltbaren. Hier leuchtet sie die auskomponierten Räume und Zustände sicher aus, markiert die werkinternen Höhepunkte und Ruhezonen in ihrem logischen Bezug innerhalb des dramaturgischen Ganzen. Dem ungarischen Savaria Symphonie Orchester, von dem bis jetzt nicht aus Unachtsamkeit nicht die Rede war, ist in dieser Phase und auch im Zuge orchestraler Eigenverantwortung alliierte Wucht und gute Staffelung der zarteren Erscheinungen zu attestieren. Auf der schulischen Messlatte hieße das: gut bis befriedigend für einen recht neuen Klangkörper endlich einmal außerhalb der bisweilen gefährlichen Sogwirkung der Hauptstadt Budaspest.
Vergleichsaufnahmen: Totentanz: Cziffra – Vandernoot (1964 /EMI 50999 213251 2), Cziffra – Cziffra jr.(1968 /EMI 50999 213251 2), Clidat – J. C. Casadesus (Forlane UCD 165 16), Zimerman – Ozawa (DG 423 571-2), Marshev – Matthias Aeschbacher (Danacord DACOCD 651), Cohen – Neschling (BIS SACD 1530), Nebolsin – Petrenko (Naxos 8.570517), Biret – Tabakov (IBA / BMP 8.571273), Bolet – Fischer (Decca 478 2373), Tanski – Blunier (MDG 937 1678-6), Tiempo– Marin (Avanti classic 5414706), Janis – Reiner (RCA), Swann - K.Martin (Agorà149.1), Cechova – Pesko (Arte Nova 74321 27787 2), L. Howard – Rickenbacher (Hyperion CDA 67401/2), Groh –Luisi (Cascavelle RSR 6150), Perl – Kreizberg (Oehms OC 316), de Waal – Immerseel (Anima Eterna ZZT 041102), Watts – Leinsdorf (CBS 60271), Béroff – Masur (EMI 245-250 208-4), Brendel – Gielen (FSM 33 4265)
Peter Cossé † [19.07.2012]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Franz Liszt | ||
1 | Totentanz S 126 (Paraphrase über Dies irae) | 00:17:44 |
2 | Malédiction e-Moll op. 452 S 121 | 00:15:03 |
3 | Les Préludes S 97 (Sinfonische Dichtung Nr. 3) | 00:15:29 |
4 | Fantasie über ungarische Volksmelodien S 123 for Piano and Orchestra | 00:16:29 |
CD/SACD 2 | ||
1 | Mephisto-Walzer Nr. 1 A-Dur S 514 R 181 | 00:15:38 |
2 | Sposalizio S 161:1 (aus: Années de pèlerinage - deuxième année: Italie) | 00:07:23 |
3 | Il Penseroso S 161:2 (aus: Années de pèlerinage - deuxième année: Italie) | 00:03:04 |
4 | Canzonetta del Salvatore Rosa S 161:3 | 00:03:22 |
5 | Blessed be the day S 161:4 | 00:06:20 |
6 | I find no peace S 161:5 | 00:05:46 |
7 | I beheld on earth S 161:6 | 00:05:55 |
8 | Après une lecture de Dante S 161:7 (Fantasia quasi Sonata, aus: Années de pèlerinage duexième année – Italie) | 00:18:25 |
9 | Ungarische Rhapsodie Nr. 14 f-Moll S 244/14 | 00:13:02 |
Interpreten der Einspielung
- Andrea Kauten (Klavier)
- Savaria Symphony Orchestra (Orchester)
- Ádám Medveczky (Dirigent)