Telemann
Les Gitans Baroque - The Baroque Gypsies
Analekta AN 2 9919
1 CD • 69min • 2009
25.03.2010
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Diese CD ist das kreativ-schöpferische Ergebnis eines fundamentalen Mißverständnisses. Historisch mißverstanden wurde vor allem das von keiner Seite, weder musikwissenschaftlich noch faktisch begründete Zigeunerbarock „Les Gitans Baroques“ oder „The Baroque Gypsies“. Kein Geringerer als der berühmte, hier als Gewährsmann in den Mittelpunkt gerückte Georg Philipp Telemann hat mit einer autobiographischen Notiz den Anstoß zur vorliegenden Fehldeutung gegeben: „Als der Hof sich ein halbes Jahr lang (Anm. 1705) nach Plesse, einer oberschlesischen, promnitzischen Standesherrschaft, begab, lernete ich so wohl daselbst als in Krakau, die polnische und hanakische Musik in ihrer wahren barbarischen Schönheit kennen“ (zitiert nach Mattheson, Grundlage einer Ehren-Pforte, 1740). Hanakische Musik war für Telemann die folkloristische Nationalmusik im damaligen Mähren, der heutigen Slowakei, innerhalb der Donaumonarchie Österreich-Ungarn. Speziell deren ungarische Einflüsse, abgelauscht von Telemann über Haydn, Mozart bis hin zu Liszt und Lehár, entsprachen aber auch bei den damals zugewanderten Zigeunern absolut den dort vorgefundenen, folkloristisch-osteuropäischen Musiktraditionen. Sie sind also nicht originär „zigeunerisch“. Zu allem Überfluß berufen sich hier und jetzt die jungen kanadischen Barockspezialisten des 13köpfigen Ensembles Caprice vor allem auf eine bisher kaum ausgewertete slowakische – also „kanakische“ – Melodiensammlung, den „Uhrovetzer Kantional“ von 1730.
Es bedarf schon einer gewissen Naivität, die in dem Kantional enthaltenen mährisch-slowakischen Volksweisen und „ungarischen Tänze“ quasi parodistisch auf die charakteristischen Vortragsmanieren virtuoser Primasgeiger und Czimbalensembles in den Wein- und Zigeunerkellern der Neuzeit (erst seit 1850) zu übertragen. Matthias Maute als Leiter und Barockflötenvirtuose der Caprice-Gruppe hat sich dafür allerdings äußerst anspruchsvolle und brillant anzuhörende Arrangements und Kompositionen ‚alla zingarese‘ einfallen lassen. Kritiker und Zuhörer fühlen sich daher mit Recht zu lebhaftem Beifall animiert. Insofern ist sein Konzept einer zwischen ungarischen (!) Lassù-Emotionen, Csárdás-Rhythmen, slowakischen Gefühlswallungen und Telemanns grenzüberschreitender Generalbaßlust wechselnder Programmbearbeitung durchaus packend, wenn auch als reine Stilfiktion der Sinti und Roma des 18. Jahrhunderts. Umso mehr vermißt man eine Übersetzungshilfe für die in gefühlsbetonter Originalsprache vorgetragenen slowakischen Folklore-Gesänge und, generell, eine deutsche Version des Beihefttextes.
Dr. Gerhard Pätzig [25.03.2010]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Georg Philipp Telemann | ||
4 | Symphonie capricieuse G-Dur TWV 50:1 (Grillensymphonie) | 00:08:04 |
10 | Sonate à la gitane d-Moll TWV 42:d10 – Allegro | 00:02:23 |
12 | Quartett e-Moll TWV 43:e4 für Traversflöte, Violine, Viola da gamba und B.c. – Modéré | 00:04:48 |
18 | Gigue für Violine solo | 00:01:33 |
23 | Concerto e-Moll TWV 52:1 für Blockflöte, Traversflöte, Streicher und B.c. | 00:12:50 |
trad. | ||
27 | Pièces Gitanes | 00:39:00 |
Interpreten der Einspielung
- Ensemble Caprice (Ensemble)
- Matthias Maute (Leitung)