Tcherepnin
The Symphonies and Piano Concertos
BIS 1717/18
4 CD • 4h 34min • 1999, 2001, 2002
01.12.2008
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
„Lieber Sascha! Haben Sie Erbarmen mit einem alten, kranken Mann. Ich halte es zwar aus, wenn Sie Klavier üben, aber nicht, wenn Sie improvisieren.“ Peter Tschaikowskys Bruder Hippolyte war in der Tat nicht mehr der Jüngste, als er den jungen Mann, der tagtäglich in der Wohnung über ihm die Tasten des Klaviers mit unbändiger Fantasie traktierte, um eine gewisse Schonfrist bat: Der Sohn des bekannten Komponisten und Lehrers Nikolai Tscherepnin hatte nun mal schon als Teenager einen Hang zu verqueren Rhythmen und Harmonien, komponierte wie wild und blieb anscheinend während seines ganzen Lebens ein Temperamentsbündel, dem es Freude machte, sein Publikum auch mal nach Herzenslust unter musikalisches Kanonenfeuer zu nehmen. Ich selbst erinnere mich noch eines späten Auftritts im Kölner Gürzenich, wo er – mit der unvergeßlichen Maria Bergmann als Solistin – sein sechstes Klavierkonzert aufführte, nachdem er zuvor die eher biedere Klientel des Saales mit seiner vierten Sinfonie niedergewalzt hatte. Bis heute sehe ich den indignierten Herrn in der Reihe vor uns, der mit bösen Blicken glaubte, uns unser diebisches Vergnügen am Paukensolo des Mittelsatzes versagen zu können...
Unvergessen ist mir auch das Auftreten Tscherepnins. Dieser lange, schlanke, ja hagere, ein wenig gebückte, mit sparsamen Gesten dirigierende Mann, der bei allen kompositorischen Detonationen seine Musik nicht „deuten“ mußte – auch diese im positiven Sinne weltmännische Noblesse scheint Teil seines Charakters gewesen zu sein, denn, so erfahren wir in Ludmila Korabelnikovas eben erschienenem Buch über den Komponisten, auf den eindringlichen Hilferuf des älteren Herrn Tschaikowsky reagierte er mit einer solchen Rücksicht, daß dieser rasch genas und ihm schon wenige Tage später mitteilte, er dürfe jetzt gern wieder üben und auch improvisieren. Dem wurde offenbar mit derselben Bereitwilligkeit entsprochen.
Die hier vorliegende Box mit den vier Sinfonien, den sechs Klavierkonzerten und verschiedenen kleineren Orchesterstücken (darunter sind das recht bekannte Sinfonische Gebet sowie der Sinfonische Marsch) bietet eine erfreuliche, weil eigentlich längst überfällige Gesamtdarstellung, deren ältestes Werk uns den unromantischen Improvisationen aus den eigenen vier St. Petersburger Wänden sehr nahe bringen dürfte: Etwa neunzehn Jahre alt war „Sascha“, als er sein erstes Klavierkonzert op. 12 komponierte, ein kolossal gedrängtes, nicht einmal zwanzigminütiges Allegro tumultuoso, in dessen anfängliches „Gewusel“ ein regelrechtes Stierhorn hineintutet – bevor nach zirka drei Minuten die pianistischen Aufgaben im wahrsten Sinne überhandnehmen und wir uns des Eindrucks nicht werden erwehren können, es habe der Jüngling versucht, den berühmten Schüler seines Vaters auszustechen, der inzwischen bereits auf dem Weg um die Welt war, nachdem er daheim die bürgerlichen Gänse geärgert hatte. Dabei steht allerdings fest, daß sich Tscherepnin junior von Sergej Prokofieff, wenn überhaupt, nur die Gebärde des Erschrecklichen, nicht aber die persönliche Diktion abgeschaut hat. Das war vielleicht auch der Grund dafür, daß die Ausführenden sich in dieser Mischung aus archaischem „Quintillieren“, fugierten Sequenzen und großem konzertanten Auftreten nicht auf das letzte Maß an Aggressivität haben einigen können: Schönes wird wirklich schön ausgeformt, Virtuoses liegt der Solistin ohne Frage in den Fingern, doch dort, wo sie gegen das brodelnde Orchester antreten, es gleißend überstrahlen sollte, stellt ihr letztlich die Klangregie ein Bein und vermag nicht, sie gebührend in den Vordergrund zu rücken.
Dieses Balanceproblem ist immer vor allem dort zu verzeichnen, wo das hohe Klavierregister gegen größere Formationen antreten müßte, der Ton aber seinen Kern verliert. Und der potentielle Hörer wird auf eine weitere Einschränkung gefaßt sein müssen: auf eine gewisse Humorlosigkeit, die sich insbesondere dort schmerzlich bemerkbar macht, wo man aufgrund der originellen Einfälle normalerweise in die Auslegeware beißen würde. Der Sinfonische Marsch mit seinem urkomischen Defilee von Beethoven bis Strawinsky beispielsweise wird genauso dirigiert, wie ihn der Einführungstext beschreibt – ohne auch nur mit einem Schnörkel oder Schlenker auf die Kohorte der Kollegen einzugehen, die sich hier auf engstem Raum ein Stelldichein geben.
Dennoch enthält die Box viele vergnügliche oder beeindruckende Entdeckungen. Die „schräge“, mit aberwitzigen instrumentalen Kombinationen und einem Scherzo aus reinen Schlagzeugklängen aufwartende erste Sinfonie; die beiden letzten Klavierkonzerte, aus denen wieder einmal ersichtlich wird, wie absurd das Wort vom „Ruhestand“ ist; die berstende, überschäumende und skurrile Festmusik von 1930 – das sind einige herausragende Ereignisse dieser Kollektion, deren Gipfel freilich auch hier wieder in der vierten Sinfonie erreicht ist, einem fürwahr zeitlosen Meisterwerk, das die ganze Statur des Komponisten wie ein Parabolspiegel konzentriert und gebündelt zurückwirft.
Rasmus van Rijn [01.12.2008]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Alexander Tscherepnin | ||
1 | Sinfonie Nr. 1 E-Dur op. 42 | 00:24:41 |
5 | Klavierkonzert Nr. 5 op. 96 | 00:23:58 |
8 | Sinfonie Nr. 2 Es-Dur op. 77 | 00:25:27 |
CD/SACD 2 | ||
1 | Sinfonie Nr. 3 Fis-Dur op. 83 | 00:26:25 |
5 | Klavierkonzert Nr. 6 op. 99 | 00:25:52 |
8 | Sinfonie No. 4 E major op. 91 (1957) | 00:26:52 |
CD/SACD 3 | ||
1 | Klavierkonzert No. 1 op. 12 – Allegro tumultoso | 00:18:44 |
2 | Klavierkonzert Nr. 3 op. 48 | 00:18:04 |
4 | Festmusik op. 45a | 00:11:48 |
8 | Symphonic March op. 80 – Allegro | 00:05:36 |
CD/SACD 4 | ||
1 | Symphonic Prayer op. 93 – Maestoso | 00:06:51 |
2 | Klavierkonzert No. 2 op. 26 – Vivo | 00:17:38 |
3 | Magna Mater op. 41 – Moderato tranquillo | 00:09:01 |
4 | Klavierkonzert Nr. 4 op. 78 (Fantaisie) | 00:29:08 |
Interpreten der Einspielung
- Noriko Ogawa (Klavier)
- Singapore Symphony Orchestra (Orchester)
- Lan Shui (Dirigent)