Ondine ODE 1030-2
1 CD • 74min • 2003
19.04.2004
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Eine ungemein bedächtige Neueinspielung der „romantischen“ Sinfonie in ihrer gängigen Fassung hat Christoph Eschenbach vorgelegt – mit beinahe 74 Minuten eine der langsamsten der Schallplattengeschichte. Eschenbach versucht im ersten Satz zunächst, ein geradezu ungeheuerlich langsames Anfangstempo (ein echtes Adagio mit Halben M.M. = ca. 44!) durchzuhalten, doch bereits mit dem Beginn der Gesangsperiode (Tr. 1, 3’22) drängt das Orchester (völlig zu recht) nach vorn, weil es spürt, dass dieses Tempo dem Charakter der Musik widerspricht. Bruckner wollte hier nach eigenen Worten das Erwachen der belebten Natur darstellen; das prägnante Motiv der Gesangsperiode stellt „die Kohlmeise Zizipe“ dar. Ab 5’22 legt das Orchester noch etwas an Tempo zu, auch wenn Eschenbach sich immer wieder Mühe gibt, abzubremsen.
In dieser Neueinspielung scheint die Natur eher einzuschlafen. Bruckners Musik wirkt hier ungemein verhalten, grüblerisch, in den Steigerungen kraftlos, zugleich geradezu grotesk riesenhaft. Auch „informierte Aufführungspraxis“ kümmert Eschenbach nicht. Abgesehen von der Bruckner nicht angemessenen, von Eschenbach bevorzugten „amerikanischen“ Aufstellung, die die Klangbalance der Streicher entscheidend vernebelt und Dialoge der Violingruppen unhörbar macht, adaptiert Eschenbach sogar ungeniert Bruckners auf damalige Verhältnisse abgestimmte Instrumentation – beispielsweise im Andante, wo Eschenbach (Tr. 2, 1’13) die Flöte in Takt 17 bis 19 ungeniert eine Oktave höher spielen lässt. Das klingt nicht nur unsauber, wie die beiden hörbar unwillig reagierenden Flötisten beim viergestrichenen c auch glatt vorführen; Bruckner führt die Wiener Flöte (eine konisch gebaute Klappenflöte aus Holz) prinzipiell nie über das dreigestrichene b hinaus. Ich bleibe lieber bei der wundervollen alten Einspielung unter Sergiu Celibidache (DG 459 665 2) mit den Stockholmer Philharmonikern, der schon 1969 zwar nur fünf Minuten langsamer als Eschenbach war, aber den Charakter der Sätze – nicht zuletzt durch die Kenntnis vom Zusammenhang der Tempi mit den metrischen Verhältnissen des Taktbaus und seine einzigartige Wahrung der Tempo-Zusammenhänge – einzigartig traf. Ein derartiges Verständnis für die tonsatz-theoretischen Grundlagen Bruckners scheint Eschenbach abzugehen; er musiziert Bruckner als groß ausufernde, romantische Linie und mit an Mahler erinnernden Orchesterfarben. Dieser Ansatz wird konsequent umgesetzt, ist aber – muß ich gestehen – absolut nicht mein Geschmack.
Die Zeiten, in denen Bruckner bei französischen Orchestern ein Stiefkind war, sind inzwischen vorbei. Das Orchestre de Paris hat noch in den späten Siebzigern mit Eugen Jochum Bruckner-Impulse bekommen und kommt mit der Sinfonie gut zurecht. Erfreulich ist auch, das Thomas Leibnitz, neuer Direktor der Musiksammlung der österreichischen Nationalbibliothek und ein hochkarätiger Bruckner-Fachmann, das kompetente Beiheft verfasst hat. Doch wer eine dem Prinzip der Klangrede folgende, am Affekt orientierte Bruckner-Deutung bevorzugt, sollte diese CD im Regal stehen lassen; Freunde pathetischer Klangweihen werden entzückt sein.
Dr. Benjamin G. Cohrs [19.04.2004]
Anzeige
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Anton Bruckner | ||
1 | Sinfonie Nr. 4 Es-Dur WAB 104 (Romantische) |
Interpreten der Einspielung
- Orchestre de Paris (Orchester)
- Christoph Eschenbach (Dirigent)