cpo 999 932-2
1 CD • 78min • 2002
15.04.2004
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Eine Entdeckung in jeder Hinsicht ist diese cpo-Produktion, welche die 17. Sinfonie c-Moll eines gewissen Friedrich Schneider (1786-1853) als Hauptwerk präsentiert. Sie haben den Namen Friedrich Schneider nie gehört? Olaf Krone, fachlicher Berater der Produktion, vermittelt in seinem Beiheft-Text interessante Eindrücke von diesem Komponisten, der ähnlich wie Mendelssohn ein musikalisches Wunderkind gewesen sein muß und von 1821 bis 1853 hoch angesehener Hofkapellmeister in Dessau war. Zu seinen über hundert Werken zählen 16 Oratorien, 7 Opern, 14 Jugend- und 9 große Sinfonien. Die zu Beginn seiner Amtszeit in Dessau entstandene dritte davon (Nr. 17 der Zählung) ist ein kraftvolles, mit 23 Minuten Spieldauer zugleich ungemein konzentriertes Werk, das verglichen mit anderen Sinfonien von 1822 so zeitgemäß wie individuell ist. Mit der Wiederaufnahme von Themen aus den ersten drei Sätzen und einer fugierten Verarbeitung im Finale klingt manches bei Schneider schon fast nach Bruckner – ähnlich übrigens die hier beigegebene c-Moll-Sinfonie Mendelssohns, die Bruckner so sehr schätzte, dass er in seiner eigenen ersten Sinfonie daraus (und auch aus der Reformations-Sinfonie) zitierte.
Besonders kühn klingen diese Werke hier freilich aufgrund der überragenden Darbietung der Cappella Coloniensis unter Sigiswald Kuijken. Der Dirigent ist als langjähriger Leiter der Petite Bande mit dem Repertoire des 18. und frühen 19. Jahrhunderts und dessen spezifischer Aufführungspraxis bestens vertraut. Das Orchester musiziert auf alten Instrumenten – also Holzblasinstrumenten deutscher Bauweise und wohltuend farbigen und dezenten Blechblasinstrumenten aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowie Streichinstrumenten mit Darmsaiten und angepassten Bogen. Das Resultat klingt ebenso begeisternd und überzeugend wie das Spiel von Norringtons legendären London Classical Players, beispielsweise in deren fulminanter Einspielung von Mendelssohns dritter und vierter Sinfonie (Virgin 5 61735 2). Die Cappella Coloniensis hat also in den letzten Jahren einen ungeheuren Qualitätssprung gemacht, von der breiten Öffentlichkeit wohl vergleichsweise unbeachtet, da dieses Orchester seit Jahren nur noch im Einzugsgebiet des WDR auftritt und vor allem Rundfunkproduktionen bestreitet. Es wäre schön, wenn sich dies in naher Zukunft wieder ändert und die Cappella Coloniensis ihre Auftrittstätigkeit erweitern könnte. „Historische“ Orchester solchen Ranges sind jedoch insbesondere hinsichtlich der Musik des 19. Jahrhunderts in Deutschland äußerst rar; den internationalen Vergleich mit Brüggens Orchestra of the 18th Century, dem Orchestra of the Age of Enlightenment oder Herreweghes Orchestre du Champs-Elysees braucht die Cappella Coloniensis nicht zu scheuen. Sie wäre ein großer Gewinn für jedes klassische Musikfestival.
Nun ist informierte Aufführungspraxis allein noch kein Garant für eine mitreißende Aufführung. Dazu bedarf es auch eines Vermittlers wie Sigiswald Kuijken, der die Musiker zu einem schwingenden, atmenden und singenden Spiel inspiriert. Das Bemühen um „historische Informiertheit“ und ein so intuitives wie geschultes Gespür für Klangrede und Affekt vereinen sich hier in einem Vollblut-Dirigenten, wie man ihn nur noch selten findet. Ich schätze ihn ebensosehr wie etwa Nikolaus Harnoncourt, Thomas Hengelbrock, Christopher Hogwood und Roger Norrington. Doch es bedarf wohl ebenso eines so vorzüglichen Konzertmeisters wie Hiro Kurosaki, der hier auch als Solist in Mendelssohns d-Moll-Violinkonzert mit einem schlanken, eleganten Geigenton, mit viel Geschmack, beredter Phrasierung und klarer Artikulation die Hörer einzunehmen weiß. Es wäre schön gewesen, hätte man die Chance genutzt, die weitgehend unbekannte Version dieses Konzertes für sinfonische Besetzung mit Bläsern aus Mendelssohns eigener Hand zu produzieren, aber die hier verwendete Erstfassung mit Streichorchester allein bietet immerhin dramaturgisch einen wohltuenden Kontrast zu den beiden rahmenden Sinfonien. Auch scheinen sich meinem Höreindruck nach die Streicher mit dem Problemkreis reiner Intonation beschäftigt zu haben, die in unserer Zeit in Orchestern aufgrund der heute bevorzugten angeglichenen Temperatur des Klaviers zwar kaum mehr zu finden ist, aber im 19. Jahrhundert (nicht zuletzt aufgrund der Bauweise der Blasinstrumente) üblich war.
Kaum Wünsche offen lässt auch der Klang der Produktion. Man hört die zahlreichen Details der Instrumentierung nicht zuletzt dank der modifizierten altdeutschen Orchesteraufstellung (Geigen links und rechts, Violen links mittig, Celli und Bässe rechts mittig); die Holzbläser kommen vorzüglich durch, da die Balance sich aufgrund der geringen Streicheranzahl (6-7-4-4-2) auf natürliche Weise einstellt. Es verwundert allenfalls, dass die vier Celli von den beiden Kontrabässen zeitweise überdeckt werden, wenn sie obligat geführt sind; auch die Violen sind vergleichsweise schlechter zu hören, obwohl sie in ihrer Sitzposition auf der linken Seite ihren Klang eigentlich nach vorne abstrahlen. Das mag mit den Gegebenheiten des Aufnahmeortes zu tun haben (Paterskirche Kempen), in der das Orchester zwar farbig, üppig und rund klingt, aber möglicherweise mittlere Frequenzbereiche ein wenig unterbelichtet bleiben. Den rundum überragenden Gesamteindruck beeinträchtigt das jedoch überhaupt nicht. Es bleibt zu hoffen, dass von der Cappella Coloniensis in Zukunft mehr Produktion zu hören sein werden – vielleicht mit weiteren Werken Schneiders, auf den ich sehr neugierig geworden bin, vielleicht auch mit einer neuen Einspielung der Orchesterwerke Mendelssohns, bei denen viele Qualitäten und Schönheiten noch zu entdecken sind: Die c-Moll-Sinfonie etwa (einschließlich ihres ursprünglichen Scherzo/Menuetts, das Mendelssohn bekanntlich in einer späteren Umarbeitung durch eine Orchesterbearbeitung des Scherzo aus seinem Oktett ersetzte) klingt in dieser Einspielung zum Beispiel weitaus überzeugender und gelungener, als viele Kommentatoren ihr bisher zugestehen mochten.
Dr. Benjamin G. Cohrs [15.04.2004]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Friedrich Schneider | ||
1 | Sinfonie Nr. 17 c-Moll (1822) | |
Felix Mendelssohn Bartholdy | ||
2 | Violinkonzert d-Moll für Violine und Streichorchester | |
3 | Sinfonie Nr. 1 c-Moll op. 11 |
Interpreten der Einspielung
- Hiro Kurosaki (Violine)
- Cappella Coloniensis (Orchester)
- Sigiswald Kuijken (Dirigent)