Origin
Michiaki Ueno
la dolce volta LDV 140
1 CD • 65min • 2024
05.12.2025
Künstlerische Qualität:![]()
Klangqualität:![]()
Gesamteindruck:![]()
„Als japanischer Cellist möchte ich der Welt das außerordentliche Repertoire meiner Heimat vorstellen“, sagt Michiaki Ueno, der Solist der vorliegenden Aufnahme, im Geleitwort zum Booklet. Das klingt, wie im nachfolgenden Text zurecht bemerkt wird, auf den ersten Blick etwas banal – ist es aber im vorliegenden Fall nicht, wenn man Uenos Background kennt. Er wurde in Paraguay geboren, verbrachte seine frühe Kindheit in in Spanien, sodass Japan für ihn lange Zeit nur die fremd-vertraute und weit entfernte Heimat war. Ihm blieb, wie auch im Booklet zu lesen ist, nichts anderes übrig, als Japan von außen zu betrachten und zugleich „als etwas, das es willentlich zu untersuchen, zu verstehen und zu wählen gilt.“ Das passenderweise „Origin“ betitelte Album, auf dem ausschließlich Werke japanischer Komponisten erklingen, zeichnet Uenos Prozess der kulturellen Aneignung auf faszinierende Weise nach, wobei die Formulierung „kulturelle Aneignung“ hier ganz bewusst und im positiven Wortsinn gewählt wurde.
Die japanische Identität
Ueno eröffnet die „Partie“ mit einem klugen Schachzug – um es im Spieljargon zu sagen: die drei ersten Komponisten, die er uns präsentiert, sind (auch) in der westlichen Klassik-Szene (relativ) bekannte Größen: Toshirō Mayuzumi (1929–1997), Tōru Takemitsu (1930–1996) und Teizō Matsumura (1929–2007). Sie waren „Vorreiter, die vor über einem halben Jahrhundert die japanische Identität untersuchten, während sie die westliche Musik studierten“ (Booklet). Das faszinierendste Stück präsentiert Ueno gleich zu Beginn des Albums: Bunraku (1960) von Mayuzumi. Es ist das zugleich am meisten japanisch klingende Werk und beschwört die Welt des traditionellen japanischen Figurentheaters herauf. Das Cello „imitiert“ den Klang von Shamisen, jenen dreisaitigen gezupften Langhalslauten mit schmalem Hals und kleinem Korpus, die auch als Bunraku-Puppentheater musikalisch begleiten. „Harte“ Pizzicati und „weiche“ Portamenti sorgen im Verbund mit fernöstlich anmutenden Harmonien für ein – nach Maßgabe westlicher Ohren – „typisch japanisches“ Klangkolorit, das in den Bann zieht.
Kaum minder faszinierend klingt das nächste Stück: Air (1995) von Takemitsu, dem wohl berühmtesten japanischen Komponisten der Nachkriegszeit, der wie kaum ein anderer seiner Zunft bestrebt war, die Idiome der westlichen und traditionell japanischen Musikkultur zu vereinen. Air ist ursprünglich für Flöte geschrieben und das letzte Werk aus der Feder von Takemitsu. Da er nie ein Werk für Solo-Cello komponiert hat, bat Ueno Takemitsus Familie um Erlaubnis, Air für sein Instrument arrangieren zu dürfen. Ueno selbst versteht seine Bearbeitung dieses Schwanengesangs als eine „Neuerfindung: ein wiedergeborenes Stück mit einer kraftvollen, geerdeten Stimme, die sich vom Original unterscheidet.“
Koto und Cello
Ähnlich wie Takemitsu, der von westlichen Komponisten wie Debussy und Messiaen beeinflusst war, ließ sich auch sein Landsmann Matsumura von europäischen Vorbildern wie Ravel und Strawinsky inspirieren. Sein an vierter Stelle zu hörendes Werk Air of Prayer schrieb er 1980 für 17-saitiges Koto solo. Koto ist eine normalerweise mit 13 Saiten bespannte Wölbbrettzither, die in der höfischen japanischen Musik (Gagaku) gespielt wird. Der in Japan einst für sein Koto-Spiel berühmte Musiker Michio Miyagi schuf in den 20er Jahren eine um vier Saiten ergänzte Variante des Instruments. Auch Air of Prayer erklingt in Uenos eigener Bearbeitung für Cello. Es ist ein dunkles, melancholisches Stück, gespickt mit hypnotischen Ostinati und flehenden Klanggesten. Unter den begnadeten Fingern von Ueno entfaltet die spirituelle Magie dieser „Gebete“ eine intensive Dringlichkeit, die unter die Haut geht. (Noch ein Hinweis zur Zählung der Stücke: an dritter Stelle der CD erklingt Sakura, ein traditionelles japanisches Volkslied, das die Kirschblüte feiert und das auf einem Album wie diesem nicht fehlen darf. Auch die beiden folgenden kurzen Stücke Karatachi no Hara (Bitterorangen) von Kōsaku Yamada (1886–1965) und Kōjō no Tsuki (Der Mond über dem verfallenen Schloss) von Rentarō Taki (1879–1903) sind japanische Genrestücke, die wie klingende Haikus anmuten.)
Auferstanden aus der Asche
Mit dem letzten – und längsten – Stück des Albums, Phoenix von Madoka Mori (Jg. 1994), springt Ueno in das Japan der Jetztzeit. Es ist nicht das erste Werk, das die junge japanische Komponistin für Ueno geschrieben hat. Komponiert während der Corona-Pandemie „malt“ es laut Booklet ein „Klangporträt Japans knapp 80 Jahre nach dem Krieg“. Die fünf Sätze sind durch ein wiederkehrendes Motiv verbunden und spielen virtuos auf der „Klaviatur“ diverser Stile und Genres – von der Atonalität bis hin zu Pop-Rhythmen. Auch wenn es im Booklet nicht explizit gesagt wird, bezieht sich der Titel „Phoenix“ sicherlich auf die Atombomben-Abwürfe der Amerikaner, die die Städte Hiroshima und Nagasaki 1945 in Schutt und Asche legten – und aus welcher sich der mythische Vogel dann neu gebar. Fakt ist: Phoenix ist ein ebenso starkes wie emotional berührendes Werk, das die aktuelle japanische Musikszene hervorragend repräsentiert.
Fazit: „Origin“ ist in jeder Hinsicht – interpretatorisch, konzeptionell, aufnahmetechnisch und vor allem auch im Hinblick auf das hochwertige Cover-Artwork – ein gelungenes Album mit einem hohem Repertoire- und Sammelwert. Michiaki Ueno inszeniert seine Suche nach (musikalischer) Identität und kulturellen Wurzeln glaubwürdig, ohne Schnickschnack und Anbiederung an wohlfeile Exotismen. Dieses Album hat das Zeug dazu, einen die japanische Musik (neu) entdecken zu lassen. Und ganz nebenbei führt es eindringlich vor Ohren, dass es neben den sattsam bekannten Repertoire-Klassikern für Cello solo – von Bach über Reger bis hin zu Kodály und Britten – im Land der aufgehenden Sonne noch ganz andere Schätze zu entdecken gibt.
Dr. Burkhard Schäfer [05.12.2025]
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Komponisten und Werke der Einspielung
| Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
|---|---|---|
| CD/SACD 1 | ||
| Toshirō Mayuzumi | ||
| 1 | Bunraku für Violoncello solo (dedicated to Mr. Sôlchiro Chara) | 00:09:51 |
| Toru Takemitsu | ||
| 2 | Air für Flöte solo (1995) | 00:07:36 |
| trad. | ||
| 3 | Sakura (Volkslied) | 00:03:29 |
| Teizō Matsumura | ||
| 4 | Air of Prayer | 00:16:24 |
| Kōsaku Yamada | ||
| 5 | Trifoliate Orange Flowers | 00:02:48 |
| Rentarō Taki | ||
| 6 | The Moon over the Ruined Castle | 00:03:42 |
| Madoka Mori | ||
| 7 | Phoenix | 00:18:05 |
Interpreten der Einspielung
- Michiaki Ueno (Violoncello)
