Christoph Graupner
Mein Jesus, nahe doch zu mir
Solo & Dialogue Cantatas II
cpo 555 656-2
1 CD • 60min • 2023
04.07.2024
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Eine neue Ersteinspielung von Kantaten des bis dato so schmählich vernachlässigten Christoph Graupner (1683-1760), der mit leichter Hand ein ähnlich umfangreiches Œeuvre hinterließ wie sein Freund Georg Philipp Telemann, ist grundsätzlich immer ein Anlass zur Freude. Florian Heyerick und sein Kirchheimer BachConsort widmen sich auf ihrer mittlerweile sechsten CD Werken aus den Jahren 1712-1716 auf Texte von Georg Christian Lehms (1684-1717), die mit zu den frühesten Beispielen der Vertonung „madrigalischer“ Libretti, wie sie von Erdmann Neumeister angeregt wurden, im Kontext der evangelischen Kirchenkantate zählen.
Opernformen in der Kirche
Die Verwendung freier, die biblischen Situationen paraphrasierender und betrachtender Texte war um 1710 noch durchaus avantgardistisch und nur an wenigen Orten zulässig, da Rezitativ und Da-Capo-Arie der orthodoxen Geistlichkeit noch als „opernhaft“ galten. Graupner hatte als Hofkapellmeister, der den Geschmack seines Großherzogs treffen musste, hier offensichtlich dieselben Freiheiten wie Telemann, der zeitgleich als Musikdirektor der Stadt Frankfurt diese neue Form der geistlichen Komponierens aufgriff.
Zudem muss Graupner um diese Zeit über außerordentlich virtuose Sänger verfügt haben, denen er in den Arien knifflige Koloraturen im italienischen Stil vorschreiben konnte. Auch dürfte die Kombination von Sopran und Solo-Fagott in Möchte nicht das Hertz zerspringen (Track 10) für 1716 revolutionär und durch die Oper inspiriert sein. Die Rezitative mit ihren gleitendenden Übergängen ins Arioso sind dagegen eher von den Werken Jean Baptiste Lullys und den „Lullysten“ beeinflusst. Graupner kannte diese Werke, da er nach seiner Zeit bei den Thomanern und dem Jura-Studium in Leipzig ab 1705 als Cembalist an der Oper am Gänsemarkt in Hamburg tätig war und dort wahrscheinlich Händel sowie sicherlich Johann Mattheson kennenlernte.
Kammerkantaten all’italiano
Florian Heyerick wählt für das Instrumentalensemble die kleinstmögliche Besetzung: Streichquartett mit Violone, entsprechende Bläser, Orgelcontinuo. Das mag original sein, was für eine Hofkapelle jedoch ungewöhnlich wäre, zumal die Autographen in den Streichern Solo- und Tutti-Wechsel vorschreiben, bietet den beiden Sängern aber womöglich zu wenig Gegengewicht. Trotzdem gerät die instrumentale Seite durchaus hörenswert.
Sängerisch ist allerdings nicht alles im Lot. Marie Luise Werneburg nimmt die Lage jenseits von f2 zu laut, was zu gelegentlicher Schrillheit führt und muss ein paar Verzierungen auslassen. Ihre Trillertechnik weist ebenfalls Verbesserungsbedarf auf.
Dominik Wörner kling an den seltenen Stellen, an denen er seine samtige Mezzavoce einsetzt, durchaus kompetent. Zudem hat er recht kreative Ideen für zusätzliche Ornamente. Jenseits des Piano verliert die Linie jedoch arg an Bindung, was die Phrasierung auf jeweils wichtige Worte negativ beeinflusst. Wer selbst Vorhalte im Rezitativ nicht im dichten Legato-Portamento abliefern kann, von den ganzen grauslich per eingeschobenen „h’s“ verunzierten Koloraturen gar nicht zu reden, war zur Aufnahme entweder nicht ausreichend präpariert, oder sollte sich einmal mehrere Tage mit alten Aufnahmen von Marcel Journet, Paul Plançon, Mattia Battistini und Ezio Pinza beschäftigen, um für sich herauszuknobeln, wie diese ihre Koloraturen gestalten.
Der Booklet-Text ist informativ. Gegen die Aufnahmetechnik bestehen keine Einwände.
Fazit: Die Aufnahme lohnt sich wegen des interessanten Repertoires. Sängerisch sind einige Defizite allerdings nicht zu überhören.
Thomas Baack [04.07.2024]
Anzeige
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Christoph Graupner | ||
1 | Soll nun das unschuldsvolle Lamm GWV 1119/13 (Estomihi) | 00:12:45 |
8 | Sehet, welch ein Mensch GWV 1124/16 (Judica, 6. Sonntag der Passionszeit) | 00:15:23 |
13 | Mein Jesus, nahe doch zu mir GWV 1129/14 (2. Ostertag) | 00:11:43 |
16 | Lass uns in deiner Liebe GWV 1159/12b (18. Sonntag nach Trinitatis) | 00:09:43 |
21 | Dein Schade ist verzweifelt böse GWV 1160/12a (19. Sonntag nach Trinitatis) | 00:09:52 |
Interpreten der Einspielung
- Marie Luise Werneburg (Sopran)
- Dominik Wörner (Bass)
- Kirchheimer BachConsort (Ensemble)
- Florian Heyerick (Dirigent)