Nikolaus Matthes
Markus Passion
resonando RN-10018
3 CD • 2h 41min • 2023
17.03.2024
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Im Bach-Werke-Verzeichnis wird als Nummer 247 eine Markuspassion gelistet, doch bekanntlich ist hiervon nur die Textvorlage aus der Feder von Christian Friedrich Henrici, der sich Picander nannte und auch das Libretto der Johannespassion schuf, überliefert (in zwei leicht verschiedenen Fassungen aus den Jahre 1731 und 1744). Es versteht sich fast von selbst, dass diese Situation über Jahrzehnte hinweg die Fantasie vieler Musiker und Komponisten beflügelt hat. Ausgehend von der Hypothese, dass es sich bei diesem Werk um eine Parodie (also eine Adaption anderer Werke Bachs) handelte, gibt es mindestens zehn Versuche, dieses Werk zu „rekonstruieren“, und mindestens vier Komponisten haben das Libretto zudem als Basis für eigene Werke genutzt.
Eine barocke Markuspassion aus unserer Zeit
Der Deutsch-Schweizer Nikolaus Matthes, Jahrgang 1981 und nicht nur Komponist, sondern insbesondere auch Regisseur, hat nun wiederum einen eigenen Ansatz gewählt und in den Jahren 2019/20 Picanders Text in barocker Tonsprache vertont. Seine Markuspassion, ein monumentales Werk von gut 160 Minuten Dauer und die Nummer 18 in seinem eigenen Werkkatalog, ist also eben keine Rekonstruktion, sondern gewissermaßen das Werk eines in der heutigen Zeit lebenden Barockkomponisten. Dementsprechend wird die Passion in dieser Aufnahme (und in einer Reihe von Konzerten im vergangenen Jahr) auch von einem von Matthes persönlich „handverlesenen“ (so der Komponist selbst) Ensemble ganz im Sinne der sogenannten „historisch informierten Aufführungspraxis“ dargeboten.
Das Vorbild Bachs und Matthes’ eigene Note
In vielerlei Hinsicht orientiert sich das Werk ganz offensichtlich und natürlich bewusst am Vorbild Bachs. Die Abfolge der Sätze ist ohnehin durch Picander vorgegeben, inklusive (auch im Vergleich zu Bachs anderen beiden Passionen) zahlreicher Choräle, für die Matthes die originalen Melodien verwendet, und mit zehn groß angelegten, substantiellen Arien, in denen die Solisten zumeist von konzertierenden Soloinstrumenten flankiert werden. Andererseits strebt Matthes keine Stilkopie an: zwar ist die Musik grundsätzlich unzweifelhaft barock geprägt, und die allermeisten Sätze würde man beim auszugsweisen Probehören sicherlich erst einmal im 17. Jahrhundert verorten. Mal weniger, mal mehr lässt Matthes jedoch auch neuere Elemente einfließen, so und würde man sich wohl unter anderem recht schnell über einen bemerkenswert modulationsfreudigen Barockmeister wundern. (Freilich: denkt man an Rebels Les Elémens, war natürlich auch im Barock punktuell vieles möglich.) Oft geschehen derlei Erweiterungen der musikalischen Mittel, um die Ausdruckspalette (speziell an besonders markanten Stellen, gerade im Zuge der Kreuzigung) zu erweitern. Im Vergleich zu Bach (insofern dieser Sinn ergibt bei einem Werk, das zwar den Geist Bachs beschwören, ihn aber nicht kopieren will) fällt außerdem ein insgesamt wesentlich stärkeres Interesse am Theatralischen, ein stellenweise fast opernhafter, manchmal durchaus illustrativer Ansatz auf.
Schmerzlich-expressive Kraft
Besonders eindrucksvoll, auch im Hinblick auf das expansiv-barocke Element, gelingt u.a. die von schmerzlichem Ausdruck erfüllte Nr. 25 (Choral Ich will hier bey dir stehen), ähnlich gefällt auch Nr. 44 (wiederum ein ausgedehnterer Choral). Dagegen wirkt die orchestrale Sinfonia (Nr. 47d), die in puncto „Modernismen“ vielleicht am weitesten geht, letzten Endes doch eher als Fremdkörper, und wenn z.B. in Nr. 33 der Hahn im Continuo tatsächlich ziemlich explizit kräht, will jedenfalls bei mir auch bei mehrfachem Hören ein gewisses Moment der Irritation nicht vollends weichen. Es sei dabei aber nochmals betont, dass es Matthes in der Totalen mitnichten darum geht, ein Pasticcio oder eine Collage von Stilen zu erschaffen, und der klassische Adressat dieses Albums ist nicht der Enthusiast für die Musik unserer Zeit, sondern ein Liebhaber von geistlicher Musik des Barock.
Eindrucksvolle, extrem liebevolle Gestaltung
Die Produktion selbst gelingt in mehrfacher Hinsicht eindrucksvoll. Zunächst kann Matthes auf ein ausgesprochen kompetentes und engagiertes Ensemble von Instrumental- und Vokalsolisten bauen, das seine Partitur mustergültig in Szene zu setzen weiß. Zum anderen ist das Album selbst – gestaltet als Schuber im DVD-Format – mit einem regelrechten Begleit-Buch (fast 180 Seiten!) versehen, das mit enorm viel Sorgfalt und Liebe gestaltet ist, ausführlich über Werk, Entstehung, Komponist, Textdichter, Interpreten und vieles mehr informiert und außerdem gleich beide Versionen des Librettos liefert. So weit wie die (ebenfalls beigefügten) Rezensionen und Kommentare, die die Passion mehr oder minder als neues zeitloses Meisterwerk apostrophieren, würde ich sicher nicht gehen. Nichtsdestoweniger ist dies in vieler Hinsicht ein Projekt, das Respekt verdient.
Holger Sambale [17.03.2024]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Nikolaus Matthes | ||
1 | Markus Passion | 02:41:17 |
Interpreten der Einspielung
- Daniel Johannsen (Tenor)
- Georg Poplutz (Tenor)
- Daniel Pérez (Bass)
- Maya Boog (Sopran)
- Annekathrin Laabs (Alt)
- Matthias Helm (Bariton)
- ad hoc (Chor)
- ad hoc (Orchester)
- Nikolaus Matthes (Dirigent)