Linien des Lebens
PASCHENrecords PR 220078
1 CD • 64min • 2021
13.04.2023
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Die Linien des Lebens, die als Motto dieses Albums gewählt wurden, beziehen sich auf ein Gedicht von Friedrich Hölderlin, das dieser 1823, also in der Zeit seiner „geistigen Umnachtung“, geschrieben und Ernst Zimmer gewidmet hat, der ihm eine lebenslange Unterkunft in seinem „Turm“ in Tübingen ermöglichte. Es ist dieses das letzte der Gedichte, die Benjamin Britten (1913-1976) in seine Sechs-Hölderlin-Fragmente op. 61 aufgenommen hat, die er seinem Freund, dem Prinzen Ludwig von Hessen, zum 50. Geburtstag schenkte und auf dessen Schloss Wolfsgarten am 20. November 1958 mit Peter Pears zur Uraufführung brachte. Kurz darauf entstand eine Schallplattenaufnahme, die bis heute maßstabsetzend geblieben ist und an der sich spätere Interpreten, etwa Ian Bostridge, auch orientierten. „My head is swimming with Hölderlin“ schrieb Britten in der Entstehungsphase des Zyklus euphorisch, und etwas von dieser Euphorie ist bei aller Klarheit und Sprödigkeit auch in seine Musik eingeflossen.
Musik im Dienste der Dichtung
Neben Hölderlin, der mit elf Titeln vertreten ist, haben Georg Trakl und Rainer Maria Rilke, zwei ebenfalls nicht leicht zugängliche Lyriker, einen prominenten Platz im Programm. Der gemeinsame Nenner aller hier zu hörenden Versuche musikalischer Aneignung ist die Einfachheit im Gebrauch der Kunstmittel. Keiner der Komponisten lässt sich hinreißen, die rätselvollen Texte zusätzlich zu verrätseln, das bedeutet: der Text hat Priorität, die Musik stützt ihn, versucht dabei, einen subjektiven Untertext zu finden. Das beginnt mit Wolfgang Fortner (1907-1987), der noch unter dem Einfluss von Paul Hindemith, über den er gerade eine Examensarbeit an der Leipziger Musikhochschule geschrieben hatte, vier Gedichte Hölderlins (darunter Hyperions Schicksalslied) in eine klare, beinahe sachliche Tonsprache übersetzte. Der Niederländer Jan Roelof Wolthuis (Jg. 1962), vor allem als Klavierbegleiter von internationaler Reputation, bringt in seine Vokalkompositionen viele praktische Erfahrungen ein, nicht zuletzt aus seiner langjährigen Zusammenarbeit mit dem Bariton Christopher Jung, der einige seiner Lieder uraufgeführt hat (De profundis ist ihm sogar gewidmet). Durchaus faszinierend, wie er sich in die komplizierten Texte Georg Trakls eingräbt und sie zur Klarheit zu bringen versucht. Besonders beeindruckt hat mich die sinnstiftende Verklammerung von dessen Menschheit mit Goethes Über allen Gipfeln ist Ruh.
Ansichten aus den Nachbarländern
Der tschechische Komponist Petr Eben (1929-2007) hat früh seine Liebe zu Rainer Maria Rilke entdeckt, ihn später als seinen Lieblingsdichter bezeichnet. Die Sechs Lieder nach Gedichten von Rainer Maria Rilke (1957) legen in der hingebungsvollen musikalischen Aneignung davon Zeugnis ab. Er selbst hat diesen kleinen Zyklus mit dem Bariton Jindřich Jindrák für den Rundfunk aufgenommen, der die Lieder allerdings in tschechischer Sprache singt, während in der vorliegenden Aufnahme das deutsche Original der Texte verwendet wird. Bei Maurice Delage (1879-1961), einem Schüler und Freund von Maurice Ravel, dessen Kompositionen oft von asiatischer Musik beeinflusst waren, erscheinen zwei Gedichte von Heinrich Heine (Auf Flügeln des Gesanges, Ein Fichtenbaum steht einsam) in der freien französischen Nachdichtung (geändertes Versmaß) von Gérard de Nerval impressionistisch verfremdet. Der aus Deutschland stammende britische Komponist Frederick Delius (1862-1934) vertonte 1898 in einer Phase intensiver Beschäftigung mit dem Philosophen Friedrich Nietzsche vier seiner Gedichte – Miniaturen, in denen die Themen Aufbruch und Wanderschaft angerissen werden.
Überzeugender Vortrag
Der Vortrag von Christopher Jung und Jan Roelof Wolthuis ist in allen Fällen überzeugend, da der Dienst an der Sache immer im Vordergrund steht. Das kristallklare, analytische und dabei nicht leidenschaftslose Spiel des Pianisten ist eine reine Freude, der Bariton besticht durch seine deklamatorische Präzision und das tiefere Eindringen in die gesungenen Texte. Sein heller Bariton zeigt in der Mittellage Substanz und auch einigen Glanz, wird in der Tiefe allerdings etwas fahl und gerät bei allem Ausdruckswillen im Forte an stimmliche Grenzen.
Ekkehard Pluta [13.04.2023]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Wolfgang Fortner | ||
1 | An die Parzen (aus: Vier Gesänge (nach Worten von Hölderlin, 1933)) | 00:02:40 |
2 | Hyperions Schicksalslied (aus: Vier Gesänge (nach Worten von Hölderlin, 1933)) | 00:02:42 |
3 | Abbitte (aus: Vier Gesänge (nach Worten von Hölderlin, 1933)) | 00:01:52 |
4 | Geh unter, schöne Sonne (aus: Vier Gesänge (nach Worten von Hölderlin, 1933)) | 00:03:01 |
Maurice Delage | ||
5 | Intermezzo | 00:03:36 |
6 | Lahore | 00:03:42 |
Benjamin Britten | ||
7 | Menschenbeifall (aus: Sechs Hölderlin-Fragmente op. 61 für hohe Singstimme und Klavier) | 00:01:23 |
8 | Die Heimat (aus: Sechs Hölderlin-Fragmente op. 61 für hohe Singstimme und Klavier) | 00:02:02 |
9 | Sokrates und Alcibiades (aus: Sechs Hölderlin-Fragmente op. 61 für hohe Singstimme und Klavier) | 00:02:02 |
10 | Die Jugend (aus: Sechs Hölderlin-Fragmente op. 61 für hohe Singstimme und Klavier) | 00:01:48 |
11 | Hälfte des Lebens (aus: Sechs Hölderlin-Fragmente op. 61 für hohe Singstimme und Klavier) | 00:02:00 |
12 | Die Linien des Lebens (aus: Sechs Hölderlin-Fragmente op. 61 für hohe Singstimme und Klavier) | 00:02:32 |
Frédéric Delius | ||
13 | Nach neuen Meeren (aus: Lieder nach Gedichten von Friedrich Nietzsche) | 00:01:03 |
14 | Der Wanderer (aus: Lieder nach Gedichten von Friedrich Nietzsche) | 00:00:53 |
15 | Der Einsame (aus: Lieder nach Gedichten von Friedrich Nietzsche) | 00:01:37 |
16 | Der Wanderer und sein Schatten (aus: Lieder nach Gedichten von Friedrich Nietzsche) | 00:01:23 |
Jan Roelof Wolthuis | ||
17 | Wandrers Nachtlied (aus: Drei Lieder nach Gedichten von Goethe und Trakl) | 00:01:20 |
18 | Ein gleiches (aus: Drei Lieder nach Gedichten von Goethe und Trakl) | 00:01:10 |
19 | Menschheit (aus: Drei Lieder nach Gedichten von Goethe und Trakl) | 00:01:48 |
20 | In ein altes Stammbuch (aus: Zwei Lieder nach Georg Trakl) | 00:02:43 |
21 | De profundis (aus: Zwei Lieder nach Georg Trakl) | 00:04:30 |
22 | Alte Weise | 00:03:07 |
23 | Sonnenuntergang | 00:03:24 |
Petr Eben | ||
24 | Vor lauter Lauschen und Staunen (aus: Sechs Lieder nach Gedichten von Rainer Maria Rilke) | 00:01:31 |
25 | Volksweise (aus: Sechs Lieder nach Gedichten von Rainer Maria Rilke) | 00:01:40 |
26 | Herbsttag (aus: Sechs Lieder nach Gedichten von Rainer Maria Rilke) | 00:01:45 |
27 | Zum Einschlafen zu sagen (aus: Sechs Lieder nach Gedichten von Rainer Maria Rilke) | 00:02:06 |
28 | Der Abend ist mein Buch (aus: Sechs Lieder nach Gedichten von Rainer Maria Rilke) | 00:01:50 |
29 | Vorgefühl (aus: Sechs Lieder nach Gedichten von Rainer Maria Rilke) | 00:02:40 |
Interpreten der Einspielung
- Christopher Jung (Bariton)
- Jan Roelof Wolthuis (Klavier)