Violeta Dinescu
Trajektorie
Dreyer Gaido 21138
1 CD • 71min • 2021
16.12.2022
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Die Komponistin Komponistin Violeta Dinescu, 1953 in Rumänien geboren und bereits seit 1982 in Deutschland lebend, hat ein umfangreiches Œuvre von Werken für verschiedenste Besetzungen vorzuweisen. Speziell ihre Kammermusik ist ziemlich gut auf CD erfasst, und wenn das neue Album diese Diskographie um einige Werke für Blockflöte, Akkordeon und Gesang vorwiegend neueren Datums ergänzt, dann ist auch die Wahl der Instrumente durchaus charakteristisch für die Bandbreite des Schaffens der Komponistin (das nota bene auch klassische Besetzungen bedient).
Zwischen Meditation und Eruption
In lingua ignota für Akkordeon und Sopranstimme (bzw. voce ad libitum, 2015) basiert auf Hildegard von Bingens Lingua ignota, einer Art Kunstsprache oder eher Begriffssammlung (nur aus Substantiven und Adjektiven bestehend). In drei Sätzen verarbeitet Dinescu einige Wörter dieser „unbekannten Sprache“ frei-assoziativ, spielt mit den Silben, legt sie deklamatorischen Gesten zugrunde, lässt sie manchmal raunend, manchmal mit verstellter Stimme (2. Satz ab 3:00) erklingen. Ausgesprochen charakteristisch für Dinescus Tonsprache (und in allen Werken auf diesem Album präsent) ist dabei das Pendeln zwischen zwei Polen, die man grob mit Meditation und Eruption umschreiben könnte. Lange Passagen sind relativ statisch gehalten, oft mit einer Art Orgelpunkt in tiefen Lagen, über dem die Musik zu deklamieren (nicht nur dann, wenn die menschliche Stimme zum Einsatz kommt), zu improvisieren scheint, einzelne musikalische Figuren aushorcht, einen Ton umkreist und ihn an- und abschwellen lässt. Dies wird immer wieder von plötzlich erregt auffahrenden grell-dissonanten Gesten durchbrochen, manchmal im Form eines kurzen Zuckens, manchmal heftiger und länger anhaltend.
Breite Palette erweiterter Spieltechniken
Speziell Trajektorie, ein Zyklus von elf Miniaturen für Blockflöte(n) und Akkordeon aus dem Jahre 2018, zeigt auch Dinescus großes Interesse an erweiterten Spieltechniken, so etwa Verfremdungen des Blockflötenklangs durch Einsatz der Stimme, Beifügen von Rauschen oder Zischen, mehrstimmigem Spiel auf der Flöte, Glissandi oder Klopfgeräuschen, sodass diese Musik immer auch ein wenig die Aura des Experimentellen umweht. Der Titel dieses Werks ist insbesondere im Sinne von Prozessen der Veränderung zu verstehen, als Suche nach Klangwelten, und innerhalb der elf Sätze wird man eine Reihe von Binnenbezügen finden, Elemente, die mehrfach aufgegriffen und neu kontextualisiert werden. Freilich: wenn etwa der Akkordeonist in den Sätzen 3, 4 und 5 eine Folge von Akkorden mit erregten „Tschang!“-Rufen (o.ä.) versieht (man beachte z.B. auch die lautmalerischen Elemente im 7. Satz ab 2:40), dann liegt es letztlich im Auge des Betrachters, ob man dies als kunstvoll-expressiv oder nicht doch eher als recht prätentiös versteht, eine gewisse Drastik der expressiven Mittel ist jedenfalls nicht zu leugnen. Ähnliche Beobachtungen gelten auch für die Gesangsszene Mein Auge ist zu allen sieben Sphären zurückgekehrt... nach Dante für Tenor und Akkordeon (2017), während Immaginabile, 1993 zunächst für Blockflöte solo entstanden und hier um eine zweite Stimme (im Playbackverfahren eingespielt?) ergänzt, eine Art pastorale Szene darstellt und klarer als in den anderen Werken eine Art Bogen beschreibt. Speziell in den größer angelegten, einander im Grundsatz ähnelnden Werken ergibt sich dagegen nicht immer der Eindruck einer Zwangsläufigkeit des musikalischen Verlaufs, einer stringenten Dramaturgie, obwohl die Werke offenbar relativ strikt konstruiert sind (u.a. unter Einbeziehung relativ fundamentaler mathematischer Objekte wie Permutationen).
Exemplarische Interpretationen, fundierter Begleittext
Die Ausführenden auf dieser CD, nämlich Gudula Rosa (Blockflöte), Marko Kassl (Akkordeon) sowie Irene Kurka (Sopran) und Markus Schäfer (Tenor), bieten Dinescus Musik jedenfalls in exemplarischer Manier dar, virtuos, expressiv und mit eminentem Gefühl für das dieser Musik innewohnende Spannungsverhältnis zwischen „sprechender“ Quasi-Improvisation und fixem Notentext, zwischen Statik und Ausbruch. Der Begleittext ist ausgesprochen fundiert, ausführlich und dankenswerterweise sogar mit Notenbeispielen.
Holger Sambale [16.12.2022]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Violeta Dinescu | ||
1 | In lingua ignota I | 00:07:15 |
2 | In lingua ignota II | 00:06:53 |
3 | In lingua ignota III | 00:03:41 |
4 | Immaginabile | 00:05:44 |
5 | Trajektorie I | 00:03:01 |
6 | Trajektorie II | 00:01:40 |
7 | Trajektorie III | 00:03:27 |
8 | Trajektorie IV | 00:01:39 |
9 | Trajektorie V | 00:01:58 |
10 | Trajektorie VI | 00:04:38 |
11 | Trajektorie VII | 00:05:18 |
12 | Trajektorie VIII | 00:02:29 |
13 | Trajektorie IX | 00:01:44 |
14 | Trajektorie X | 00:02:24 |
15 | Trajektorie XI | 00:02:21 |
16 | Mein Auge ist zu allen sieben Sphären zurückgekehrt... | 00:17:03 |
Interpreten der Einspielung
- Gudula Rosa (Blockflöte)
- Marko Kassl (Akkordeon)
- Irene Kurka (Sopran)
- Markus Schäfer (Tenor)