Sofia Gubaidulina
DG 486 1457
1 CD • 63min • 2019, 2021
16.12.2021
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Sofia Gubaidulina – the first ninety years, und kein bisschen Greisenhaftigkeit. Geboren am 24. Oktober 1931 im tatarischen Tschistopol und seit 1992 in der Nähe von Hamburg zuhause, steht Sofia Gubaidulina tatsächlich mit nunmehr neunzig Jahren auf der vollen Höhe ihrer kreativen Kraft. Dieses neue und überfällige Album der Deutschen Grammophon anlässlich ihres runden Geburtstags fesselt mit den zwei jüngsten Werken: dem 3. Violinkonzert Dialog: Ich und Du (2017-18) und dem aus dem Oratorium Über Liebe und Hass hervorgegangenen Tonpoem The Wrath of God (2018-19).
Natur versus Zwölftönigkeit
Zusätzlich erklingt, als längste und eindeutig am längsten wirkende Komposition, die weitaus statischer konzipierte Tondichtung The Light of the End von 2003, in welcher Sofia Gubaidulina dem weit verbreiteten Experiment huldigt, die Naturton-Intonation der wohltemperierten Zwölftönigkeit gegenüberzustellen – das führt, wie schon bei Ligeti und anderen, zwar zu aparten Klangwirkungen und zu einer immer wieder zufällig und falsch intoniert sich anfühlenden Konfrontation des pragmatisch Künstlichen mit jener Freiheit, die den Aufstieg der modulierenden Polyphonie nicht überleben konnte. Diese Gegenüberstellung ist sozusagen für den Fachmann von historisch bedingtem Interesse, jedoch musikalisch erlebt eine pittoreske Nebensache auf Kosten organischen Zusammenhangs – so auch hier. Interessante Klangzustände und -kollisionen, und keine musikalische, sondern lediglich formstrategische Entwicklung.
Die ganze Leuchtkraft der Dreiklangskonsonanz
Ganz anders die beiden neuen Werke. Das gut 21minütige 3. Violinkonzert Dialog: Ich und Du (der Titel ist inspiriert von Martin Buber) wird vom Widmungsträger Vadim Repin mit erlesener geigerischer Klasse vorgetragen. Stilistisch bewegt sich die Komponistin freier denn je, mit klar wiedererkennbarer Motivik, und dabei immer begleitet vom Gestus des quasi spontan Improvisatorischen. Herrlich klar funktioniert das Wechselspiel von Solist und Orchestergruppen, auch wunderbar klar eingefangen von der Tontechnik, die bei detaillierter Wedergabe der Nuancen Repins die Orchesterinstrumente niemals schwächlich in den Hintergrund rückt. Gut gemacht, diese unlösbare Quadratur des Kreises, so realistisch wie eine Escher’sche Unendlichkeitstreppe. Überdies ist dieser ‚Dialog‘ tatsächlich ein im traditionellen Sinne dankbares Violinkonzert und durchaus geeignet, auch in ganz normalen Abonnementreihen dargeboten zu werden, ohne das Publikum in untertäniger Ratlosigkeit zurückzulassen, also Musik für Kenner und Liebhaber gleichermaßen. Und die ganze Leuchtkraft der Dreiklangskonsonanz innerhalb eines bis auf die Einstimmigkeit durchgehend mehr oder weniger dissonanzgesättigten Kontexts kommt in zwei Schlüsselaugenblicken zum Tragen: bei 16’00 das licht strahlende Ges-Dur von Trompeten, Hörnern und Glocken, und ganz am Ende das zutiefst introvertierte d-moll des Orchesters in tiefer Klage zum Flageolett des Solisten in höchster Höhe – welch magische Räumlichkeit zugleich!
Meisterin des freitonalen Tonsatzes
Dieses 3. Violinkonzert erscheint mir als ein Werk auf der Höhe zeitgenössischer Errungenschaften, das zugleich von fein erlebtem, organischem inneren Zusammenhang ist. Und noch mehr gilt das meines Erachtens für The Wrath of God, das ebenso zum Besten aus Sofia Gubaidulinas Feder zählt. Allerdings mit der Einschränkung, dass der Titel uns eine Allgewalt erwarten lässt, die die Musik schlicht nicht einlösen kann. Doch dies – die tatsächliche Entfaltung tönenden Zorns (und entsprechend Schreckens) im Vergleich mit dem archaisch allumfassenden Titel – bleibt die einzige Enttäuschung an einer ansonsten faszinierenden, womöglich großartigen Sache. Auch zeigt sich Sofia Gubaidulina hier als wahrhafte Meisterin des freitonalen Tonsatzes, die im historischen Kontext dessen, was Komponieren eigentlich ist bzw. sein sollte, bestehen kann: spannungsvoll bezugsreiche melodische Fortspinnung im einstimmigen, kontrapunktisch wirkungsmächtige Schreibweise im zweistimmigen Satz, und immer wieder jene für sie so bezeichnende Heterophonie, die als freie, momentweise absichtsvoll zerfasernde, dann wieder expressiv entflammende Umspinnung einer tragenden Einzelstimme erlebt werden kann. In der Coda gestattet sich die Komponisten die entschieden plakative Beschwörung der ‚Pranke des Löwen‘ (Beethovens Neunte Symphonie).
Empathische Gesamtleistung von Dirigent und Orchester
Die Form als Ganzes ist in diesem furios ritualisierten Zorn Gottes durch die klangmächtigen Aufbäumungen hindurch stets erlebbar, und dem Gewandhausorchester Leipzig unter seinem Chefdirigenten Andris Nelsons gebührt hier hohe Anerkennung für eine über das Technisch-Klangliche hinaus außergewöhnlich empathisch herausgearbeitete Gesamtleistung – ja, ich habe den Eindruck, dass Nelsons hier mit mehr Freude am Abenteuer agiert als in den immer wieder gegebenen Repertoirestücken. Ein lohnendes Album, eine bezwingende Begegnung mit einer hochbetagten Meisterin, die anscheinend noch lange nicht müde geworden ist.
Die einfallslose Covergraphik ist peinlich bezüglich der Knallfarbenoptik (welcher Bezug soll sich da zum musikalischen Charakter herstellen lassen?), der knappe Booklettext akzeptabel – daher wie auch aufgrund der geringeren musikalischen Qualität von The Light of the End kann hier die obligatorische Gesamtbewertung des Albums nicht mit der Höchstpunktzahl geschmückt werden.
Christoph Schlüren [16.12.2021]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Sofia Gubaidulina | ||
1 | Violinkonzert Nr. 3 (Dialog: Ich und Du) | 00:21:30 |
2 | The Wrath of God | 00:17:02 |
3 | The Light of the End | 00:24:14 |
Interpreten der Einspielung
- Vadim Repin (Violine)
- Gewandhausorchester Leipzig (Orchester)
- Andris Nelsons (Dirigent)