Dmitri Shostakovich
Symphonies Nos. 4 & 11
DG 00289 483 5220
2 CD • 2h 07min • 2017, 2018
16.09.2018
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Für die neueste Folge seines – bislang außerordentlich erfolgreichen –Schostakowitsch-Zyklus hat sich Andris Nelsons zwei Sinfonien ausgesucht, die alles andere als leicht zu realisieren sind, und dies aus verschiedenen Gründen. Im Falle der genialen, tragisch-grotesk-chaotischen Vierten gilt es zum einen, die ausufernde Struktur mit eisernem Griff zusammenzuhalten. Wem dies nicht gelingt, ist ein grandioses Scheitern so gut wie gewiss, wie dies erst jüngst Mikhail Pletnev mit dem Russischen Nationalorchester (Pentatone) höchst eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat. Nelsons hingegen legt ab dem ersten Takt straffe Zügel an – so sehr, dass man sich zuerst über das im Vergleich zu anderen Einspielungen sehr rasche Tempo wundern mag. Doch das Konzept funktioniert, nicht zuletzt, weil der Dirigent den zweiten Teil ab dem lyrischen Fagott-Solo wesentlich langsamer nimmt, wie vorgeschrieben. Der auch durch diese verschiedenen Tempi gesicherte Kontrast zwischen zwei emotionalen Ebenen wird bis zum Schluss des Kopfsatzes durchgehalten und resultiert in einer sehr einheitlichen, formal schlüssigen Interpretation, der es jedoch keineswegs an der Verwirklichung der zahlreichen Extremwerte mangelt – man höre etwa die hier wirklich bis zum Zusammenbruch vorangetriebene irrwitzige Fuge. Nur werden diese Extremwerte eben eins zu eins umgesetzt und nicht noch durch zusätzliche Anführungszeichen hervorgehoben, was sich für die Musik tödlich auswirken kann.
Der zweite Satz erklingt unter Nelsons′ Händen ebenfalls zügig, mit genau der richtigen Portion sarkastischem Biss. Für die divertimento-haften, tänzerischen Passagen des Finales lässt sich Nelsons die Zeit, die nötig ist, um die theaterhaften Auftritte der einzelnen Solo-Instrumente gebührend hervortreten zu lassen. Und eine überzeugende Abrundung wird in der Coda erreicht, mit gebührend getragenen Tempo und deutlicher Charakterisirung des Herzschlag-Rhythmus.
Natürlich darf die formale Gestaltung nicht auf Kosten der geradezu unüberschaubar zahlreichen Details gehen, und auch hier geben sich Nelsons und das in Bestform aufspielende Boston Symphony Orchestra keine Blöße. Die Akzente sitzen wie Nadelstiche, und ein fabelhaft transparentes Klangbild sorgt dafür, dass jede Instrumentengruppe kongenial abgebildet ist. Das gilt insbesondere für die in diesem Werk ungemein wichtigen Bassregionen: So erhält in jener katastrophischen, „verunglückten“ Apotheose vor der Coda, die sonst oft wie ein einziges Durcheinander wirkt, der alles bestimmende Paukenrhythmus die ihm gebührende Prominenz, und die leise pulsierenden Harfen in der Coda sind endlich einmal in aller gebotenen Deutlichkeit zu vernehmen. Besser geht es eigentlich nicht. Um eine ähnlich überzeugende Einspielung dieses Extremwerks zu finden, muss man schon bis zu Kondraschin zurückgehen.
Auch die Elfte Sinfonie kann unter weniger berufenen Händen langatmig klingen, was aber weniger einer unüberschaubaren Struktur geschuldet ist, als vielmehr der – im Vergleich zur Vierten, aber auch zu anderen Sinfonien Schostakowitschs – relativ einfach gehaltenen Tonsprache. Wer an diese Musik nicht hundertprozentig glaubt, unter dessen Händen wird sie wie ein typisches Erzeugnis des in der Sowjetunion offiziell eingeforderten Sozialistischen Realismus klingen. Diese Gefahr umgeht Nelsons mit einer absoluten Identifikation mit dem Gehalt der Partitur. Natürlich sind auch hier wieder Extremwerte überzeugend verwirklicht: Die Massakerszene im zweiten Satz hat wohl kaum je schneidender und brutaler geklungen, und im Finale spielt das Orchester auf der Stuhlkante, als ginge es um Leben und Tod (was es ja auch tut). Nelsons hingegen verleiht der Musik auch Würde, ein Mitleiden mit den Menschen, um die es in dem Werk geht (die Sinfonie thematisiert die vom Zarenregime niedergeschlagenen Demonstrationen von 1905). So vollbringt er das Kunststück, dass der sonst oft etwas banal klingende dritte Satz zum Herzstück der Sinfonie avanciert. Auch hier kann man wohl von einer modernen Referenz sprechen.
Bei beiden Werken handelt es sich um Liveaufnahmen; der Applaus wurde dankenswerterweise weggelassen.
Thomas Schulz [16.09.2018]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Dimitri Schostakowitsch | ||
1 | Sinfonie Nr. 4 c-Moll op. 43 | 01:04:24 |
CD/SACD 2 | ||
1 | Sinfonie Nr. 11 g-Moll op. 103 (Das Jahr 1905) | 01:02:39 |
Interpreten der Einspielung
- Boston Symphony Orchestra (Orchester)
- Andris Nelsons (Dirigent)