Decca 476 2745
1 CD • 65min • 1972, 1977
17.03.2005
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Diese Aufnahme von Bruckners Sechster aus den berühmten Wiener Sophiensälen vom 15. November 1972 war in Europa seinerzeit nur auf LP erhältlich und ist schon lange vergriffen. Nachdem Decca ein CD-Remastering bereits in Japan veröffentlicht hatte (Japanese London CD POCL 4322), folgt nun eine Übernahme von Universal Music Australia für die Reihe Eloquence.
Als Dokument ist diese Produktion zweifellos interessant, denn die Sechste ist eine von jenen Sinfonien Bruckners, die von den Wiener Philharmonikern am seltensten gespielt und aufgenommen wurde. Allerdings ist die auf dem Höhepunkt des Wirkens Herbert von Karajans entstandene Aufnahme auch ein trauriges Beispiel für die damaligen ästhetischen Verirrungen: Der Klang ist extrem außenstimmenbetont; plastisch eingefangen sind lediglich die ersten Violinen (links), die Celli (rechts) und die frappierenden Hörner (ebenfalls links) – zumal das Orchester hier einmal mehr genötigt worden war, von seiner traditionellen Aufstellung antiphonaler Geigen Abstand zu nehmen. Alles andere verschmilzt zu einer Creme des Wohlklangs, wenn nicht gerade die Instrumentation so dünn ist, daß nur wenige Spieler beteiligt sind: Die Holzbläser hört man eigentlich nur, wenn das Blech schweigt und die Streicher leise spielen... Von der Balance her ist die Aufnahme eine reine Katastrophe. Selbst Eugen Jochums berühmte historische mono-Produktion von Bruckners siebter Sinfonie mit den Wiener Philharmonikern vom gleichen Ort klingt weitaus räumlicher und differenzierter. Das Originalband war offenbar auch nicht ganz fehlerlos, bis hin zu Dropouts (z. B. Tr. 1, linker Kanal, bei ca. 13’32). Das Grundrauschen ist erheblich, der Gesamtklang aufgrund des Halls mulmig. Auch die Timing-Angaben der Tracks stimmen nicht: Auf meinem Player bei einer Gesamtspielzeit von 55’09 haben die Sätze mit Tr. 1 bis 4 folgende Zeiten: 16’46, 16’18, 8’12 und 13’53, pro Track ergeben sich also Abweichungen zwischen 4 und 10 Sekunden zu den Angaben des Booklets. Die Aufführung selbst ist eine der schwächeren Interpretationen der Sinfonie, ungeachtet manch schöner Momente, musiziert eher in der deutsch-romantischen Tradition (weshalb die Paarung mit den besser klingenden beiden Ouvertüren Carl Maria von Webers hier vorzüglich paßt) als in der Tradition der Wiener Klassik.
Welchen Notentext Horst Stein zugrundelegte, ist unklar: Die vorzügliche Bruckner-Diskographie von John F. Berky listet das Werk unter „Haas-Ausgabe“, doch die beiden Druckfehler im Adagio, die auf manchen Produktionen hörbar sind und eine Zuordnung eindeutig machen, sind hier korrigiert (T. 84, 1. Klarinette, letztes Viertel bei Haas fälschlich klingend a’, hier korrekt as’, sowie T. 94, 1. Klar., bei Haas versehentlich ab dem 2. Viertel nicht transponiert notiert, was klingend es’ statt f’ ergibt; vergl. diese Einspielung, Tr. 2, ca. 7’40 und 8’28). Stein setzte sich oft über die Angaben der Partitur weg. Er verkannte insbesondere die Temporelationen des ersten Satzes, wie sie Celibidache in seiner legendären einzigen Aufführung mit den Münchner Philharmonikern bei ungefähr gleicher Dauer so vorbildlich realisierte (EMI 5 56694 2). Das Adagio ist flüssig musiziert, wirkt aber so ernüchternd wie eine kalte Dusche. Das skurrile Scherzo mit seinen Anklängen an Weber und Schumann lag Stein offenbar am ehesten, doch vor den Kühnheiten des Finales schreckte er zurück – zumindest wirkt der Satz weitaus gelassener und zahnloser, als die vergleichsweise rasche Gesamtspielzeit von 13’53 vermuten ließe. Man vergleiche das nur einmal mit Furtwänglers rasantem Finale aus dem Berliner Live-Mitschnitt vom November 1943 (bei dem leider der Kopfsatz verloren ging, EMI 5 66210 2). Manche Passagen sind vom Zusammenspiel her eine Katastrophe: Es gibt Stellen, an denen einzelne Gruppen bis zu einem Viertel von anderen abweichen, zum Beispiel bei der Hauptthemenreprise des Kopfsatzes, wo Stein das in der Partitur angegebene accelerando unterließ, Bruckners Angabe „pianissimo sempre“ durch ein Crescendo ersetzte und dadurch beim Wiedereintritt des Hauptthemas das „Tempo wie Anfangs“ so gründlich verfehlte (Takt 195, Tr. 1, 9’05), dass die Diskantstimmen, insbesondere die ersten Violinen, gut zwei Takte brauchten, bis sie wieder mit dem schweren Blech zusammen waren. Eine ähnliches Desaster im Adagio zu Beginn der letzten großen Hauptthemensteigerung (Takt 93, ab Tr. 2, 8’22), wo alles ‘ins Schwimmen’ geriet, und auch im Finale liefen die Streicher oft dem Blech davon (bzw. schleppte das Blech). Ob das auf die akustischen Bedingungen in den halligen Sophiensälen oder Koordinationsprobleme des Dirigenten zurückgeht, ist nicht sicher zu sagen, aber ich vermute eher letzteres, da solche Schwierigkeiten vermehrt an Stellen auftreten, an denen Tempoübergänge nicht richtig funktioniert haben. Es wird hohe Zeit, daß die Wiener Philharmoniker schon zur eigenen Ehrenrettung dieses Werk endlich einmal erneut einspielen – vielleicht am besten unter Nikolaus Harnoncourt, dessen neue Sicht von Bruckners Fünfter besonders verheißungsvoll geriet, und bei dem die Sechste jetzt (nach den Sinfonien 3 bis 5 und 7 bis 9 mit verschiedenen Orchestern) eigentlich anstünde, wenn sie ihn interessiert.
Dr. Benjamin G. Cohrs [17.03.2005]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Anton Bruckner | ||
1 | Sinfonie Nr. 6 A-Dur WAB 106 | |
Carl Maria von Weber | ||
2 | Beherrscher der Geister op. 27 ( Rübezahl) | |
3 | Abu Hassan |
Interpreten der Einspielung
- Wiener Philharmoniker (Orchester)
- Horst Stein (Dirigent)