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Besprechung CD

Bax - The Symphonies

Chandos 10122(5)

5 CD • 5h 55min • 2002/2003

20.02.2004

Künstlerische Qualität:
Künstlerische Qualität: 10
Klangqualität:
Klangqualität: 5
Gesamteindruck:
Gesamteindruck: 10

Gerade noch rechtzeitig zum 50. Todesjahr von Arnold Bax ist dieses 5-CD-Set mit allen Sinfonien unter Vernon Handley erschienen. Es ist zwar schon die vierte Gesamteinspielung – in den frühen siebziger Jahren waren alle Sinfonien unter verschiedenen Dirigenten auf LP bei Lyrita erschienen; 1983-88 folgte der seinerzeit als Entdeckung gepriesene Chandos-Zyklus unter Bryden Thomson; 20 Jahre später machte Naxos mit seiner Gesamteinspielung unter David Lloyd-Jones diese phänomenalen Werke einem internationalen Liebhaber-Publikum überhaupt erst verfügbar – und doch handelt es sich hier in gewisser Weise um eine Premiere: Erstmals wurden die Sinfonien mit einem Dirigenten aufgenommen, der nicht erst seit seiner Einspielung der vierten Sinfonie mit dem Guildford Philharmonic im Jahr 1964 einer der größten Kenner und leidenschaftlichster Interpret der Werke von Bax ist. So sind denn auch die über 40 Jahre Musiziererfahrung Vernon Handleys mit Bax eins der stärksten Argumente für die Anschaffung dieser Box.

Was lange währt, wird endlich gut – dem Dirigenten wurde hier ein lang gehegter Traum erfüllt, nachdem mehrere Anläufe gescheitert waren: Als Chandos in den achtziger Jahren eine Gesamteinspielung erwog, war zunächst Handley im Gespräch, der aber damals der EMI näher stand. Bryden Thomson erhielt schliesslich den Zuschlag. Daraufhin bot EMI Handley einen Bax-Zyklus an – nicht zuletzt aufgrund seiner preisgekrönten Vaughan-Williams-Einspielung für Eminence; und es kam auch ein Angebot von Naxos. Wegen seiner EMI-Verpflichtung lehnte Handley diese ab, Naxos wandte sich an David Lloyd-Jones. Der EMI-Bax-Zyklus wurde jedoch nie produziert, weil es zwischenzeitlich einen Management-Wechsel gab. Immerhin konnte Handley bei Chandos 1986 und 1988 die Spring Fire-Sinfonie (CHAN 8464), einige kleinere Orchester- und bedeutende Chorwerke von Bax produzieren, aber nur als Ergänzung zu Thomsons Aufnahme-Tätigkeit. Die letztliche Realisierung des Projektes ist zum einen der BBC zu verdanken, die Handley zunächst eingeladen hatte, die dritte Sinfonie und Tintagel mit dem BBC Philharmonic für das BBC Music Magazine zu produzieren, dem immer eine CD beiliegt. Das Management des Orchesters war so begeistert, daß die BBC und Chandos schließlich für eine Co-Produktion einer Gesamtaufnahme gewonnen werden konnten.

Das will etwas heißen, denn Bax hat als wohl bedeutendster britischer Sinfoniker neben Ralph Vaughan-Williams und Edward Elgar immer noch nicht die Anerkennung gefunden, die ihm zusteht. Und tatsächlich gelingt erst Handley hier die eigentliche musikalische Ehrenrettung des Komponisten. Generell bemerkt man zunächst die überlegene Disposition der Tempi: Bax

hatte die Angewohnheit, kleine Verzögerungen, Beschleunigungen und andere Nuancen freigiebig in der Partitur zu verteilen, weil ihm streng durchgehaltene Tempi zuwider waren. Das hat manche der ohnehin wenigen Bax-Dirigenten zu Übertreibungen verführt, die den Sinfonien unter anderem den Vorwurf einbrachten, »rhapsodisch« oder gar »inkohärent« zu sein. Handley begreift diese Angaben, wie sie gemeint sind – als Schattierungen, von denen bereits Brahms meinte, sie müßten »con discrezione angebracht werden.« Handley findet fast immer das dem Ausdruck der Musik angemessene Tempo und beachtet auch sehr oft die aus der Faktur der Musik sich ergebenden Tempo-Relationen einzelner Teile und Sätze. Die Tempi sind durchweg flüssig, was den sonst gelegentlich unerträglich larmoyant genommenen langsamen Mittelsätzen besonders gut ansteht. Dennoch kommt in den bewegten Ecksätzen die Klarheit von Details nicht zu kurz. Darüber hinaus hat Handley in aller Regel treffsichere Tempo-Konzepte für den Energiefluß und die Disposition von Höhepunkten. Wenn nötig, lässt er sein Orchester auf Risiko spielen, während Bryden Thomson – der freilich in kürzester Zeit die Werke zu lernen hatte, die er bis dato kaum dirigiert hatte – auf Nummer Sicher ging und insbesondere den Finalsätzen viel von ihrem Elan und Schwung nahm.

Kleine persönliche Fragezeichen habe ich insbesondere bei der dritten und sechsten Sinfonie. Die Einleitung der Dritten (CD I, Tr. 4) nimmt Handley überraschend zügig; er will so rasch wie möglich ins Allegro moderato kommen. Auch den Epilog des Finales (Tr. 6) gestaltet er – absichtlich, wie aus den auf CD 5 beigegebenen Interviews hervorgeht – betont unsentimental. Ich bevorzuge hier immer noch die Einspielung unter Barbirolli, die erste Produktion mit seinem damals von ihm neu aufgestellten Hallé Orchestra (Dezember 1943 und Januar 1944, EMI 7 63910 2), wo die Holzbläser zu Beginn fast wirken, als ob sie ungeordnet auf die Bühne stolpern und dann vor sich hin improvisieren, und wo die Spielkultur der Streicher geradezu überirdisch-visionär wirkt. (Freilich: auf Darmsaiten und in weitgehend reiner Stimmung gespielt, klingt das ganz anders auf den modernen, großen Stahlseiten-Geigen, die heutzutage gestimmt werden wie Klaviere: zu hoch intonierte Kreuz-Vorzeichen, zu tief intonierte B-Vorzeichen-Töne, unreine Quinten, daraus resultierend eine Vermeidung des Spiels auf leeren Saiten. Bax und Zeitgenossen haben mit dem Gegenteil gerechnet).

In der sechsten Sinfonie (die neben Thomson und Lloyd-Jones auch von Norman Del Mar, Douglas Bostock und George Groves eingespielt wurde) hört man zwar zum ersten Mal die Tempoverhältnisse im ersten Satz korrekt – die Einleitung als gemessene Prozession, das Allegro (CD 3, Tr. 4, 2’36) nicht zu rasch und klar von den aus dem Anfangsmotiv abgeleiteten Violen geführt. Aber die rhythmisch an diese Anfangs-Intrada anknüpfende, große letzte Steigerung des Mittelsatzes, die so sehr an das Kirchen-Finale in Puccinis Tosca erinnert (Tr. 5, 5’27), ist im Vergleich dazu viel zu rasch; auch Details wie die absteigenden Kaskaden der mit Holzbläsern verstärkten zweiten Violinen gehen hier völlig unter. Der Satz sollte seinen Siciliano-Charakter bis zum Ende hin wahren. Die Coda des ersten Satzes (Tr. 4, 9’17) hingegen ist für meinen Geschmack zu zurückhaltend – hier entwickelt allein Lloyd-Jones den sog-artigen Effekt eines schwarzen Loches.

Noch weiter in Details einzusteigen, würde den Rahmen sprengen. Generell haben jedoch alle Interpretationen Handleys höchstes musikalisches Niveau; ohne jeden Zweifel herausragend gelingen ihm die Erste, Zweite, Vierte und Siebte – also besonders diejenigen, die man früher oft als die schwächeren Sinfonien von Bax bezeichnet hat. Neben den genannten Abstrichen in der dritten und sechsten hätte ich mir für die fünfte Sinfonie an vielen Stellen ein bisschen mehr Weite des Atems (Bläser zu Beginn!) gewünscht; außerdem könnten die Trauermarsch-Trommeln zu Beginn des Kopfsatzes (CD 3, Tr. 1) noch etwas klarer sein, wie beispielsweise in der fulminanten Ersten. Hier hat Thomson meines Erachtens den Charakter besser getroffen. Eine willkommene Beigabe ist die beinahe böhmisch wirkende Rogue’s Comedy Overture, während die extrem ausufernde, selten nach Meer riechende Darbietung der durch die Küstenlandschaft in Cornwall inspirierten Tondichtung Tintagel gewöhnungsbedürftig ist – zumal hier leider auch das Zusammenspiel mehrmals gefährlich auseinander driftet. Da sind für mich die Barbirolli-Einspielung (EMI 5 65110 2) und die frühe Boult-Version aus den Fünfziger Jahren unerreicht.

Regelrecht düpiert fühle ich mich jedoch durch die Aufnahmetechnik: Die Einspielungen stammen aus dem staubtrockenen BBC Studio 7 in Manchester – eine typische, moderne Multi-Mikrophon-Aufnahme, hinterher mit künstlichem Hall belegt. Die Einspielung beispielsweise der Spring Fire-Sinfonie (die durchaus noch Bestandteil dieser Box hätte sein dürfen), aufgenommen in der All-Saints-Kirche in Tooting, London, klingt weitaus natürlicher, räumlicher und atmender. So ein Klang lässt sich nicht mit Studiomitteln adäquat realisieren. Die dankenswerterweise von Handley gewählte Aufstellung der Streicher mit antiphonalen Violinen, Celli links hinter den ersten, Violen rechts hinter den zweiten Geigen, kommt im Tutti überhaupt nicht zur Wirkung: Mit Staunen vernimmt man erst im Kopfsatz der Dritten, in der reinen Streicher-Fugato-Passage (CD 1, Tr. 4, ab ca. 11’15), einen räumlich klar differenzierbaren Streicherklang, wie er auch im Tutti sein und die Bläser tragen sollte (zweite Violinen rechts deutlich hörbar ab 11’40, erste Violinen und Celli ab etwa 12’00, später Bässe von rechts hinten).

Auch in der Einleitung der fünften Sinfonie kommt das Streichorchester optimal zu seinem Recht, doch solche Passagen bleiben die Ausnahme: Die Streicher werden von den Monster-Blechbläsern – die heute etwa ein Drittel größer gebaut, weiter gebohrt und mithin voluminöser sind als zur Entstehungszeit dieser Sinfonien – regelrecht erschlagen, wo immer diese auftreten. Einen guten Eindruck davon geben unabsichtlich die Cover-Bilder der CD’s Nr. 2 und 3, welche die enorm großen Hörner und Posaunen heutiger Zeit zeigen. Es ist in höchstem Maße unnatürlich, wenn in einem fortissimo des ganzen Orchesters einzig und allein die links positionierten vier Hörner räumlich auszumachen sind, weil sie wie eine Mauer klingen. Oder wenn drei forte blasende, mit Dämpfern versehene Posaunen immer noch lauter sind als eine ganze 16-köpfige Violingruppe! Dieses Ungleichgewicht der Blechbläser hat auch zur Folge, dass die Holzbläser immer wieder nachgeregelt und hochgedreht werden müssen.

So liest es sich wie Hohn, wenn Chandos auf Seite 54 des Booklets suggeriert: »24 Bit-Technologie hat eine um 48 db größere Bandbreite und erreicht eine bis zu 256fach höhere Auflösung von Standard-16Bit-Aufnahmen.« Kaum ein Hörer kommt in diesen Genuss, denn die meisten CD-Player sind gar nicht in der Lage, da mitzuhalten. »Diese Verbesserungen sorgen nun dafür, dass Sie, der Hörer, sich an noch mehr natürlicher Klarheit und Atmosphäre des ›Chandos Sound‹ erfreuen können.« Nichts wäre weniger wahr: Die manipulierte Aufnahmetechnik erzeugt einen opulenten Hollywood-Breitband-Klang ohne Klarheit und Atmosphäre und schon gar nicht natürlich. Und »256fach höhere Auflösung« wozu, wenn durch künstlichen Hall und wegen der Instrumente die klangliche Balance schlicht nicht herstellbarbar ist und nicht einmal die Instrumentengruppen deutlich von einander getrennt wahrgenommen werden können?

Mir persönlich ist eine historische Aufnahme bei allen Defiziten (Mono, Rauschen, Knacken) immer noch lieber, weil sich da eine Menschlichkeit und Wärme im Musizieren äußert, die vielen der heutigen Hightech-Produkte einfach fehlt. Herzblut-Musikern wie Vernon Handley tut man mit diesem »Größer, Schneller, Lauter« ebenso wenig einen Gefallen wie dem Publikum, das sich daran gewöhnt, nur noch durch unmenschliche Lautstärke oder übermäßige Vibrato-Sentimentalität emotional erreicht zu werden. Und auch die Orchestermusiker tun sich keinen Gefallen: Der um etwa 50 Dezibel höhere Lautstärkepegel macht ihr Gehör kaputt; die meisten Blechbläser in London spielen mit Gehörschutz. Alle schreien nach akustischen Umbaumaßnahmen, doch niemand scheint auf die naheliegende Idee zu kommen, einfach die Größe der Instrumente zu reduzieren und sich wieder auf musikalische Qualitäten zu besinnen. Die klangtechnischen Resultate der Chandos-Ideologie sind für meinen Hörgenuss wenigstens ein ganz erheblicher und sehr bitterer Wermutstropfen dieser in musikalischer Hinsicht unverzichtbaren Referenz-Interpretationen der großartigen Sinfonien von Bax durch Vernon Handley.

10, 5, 10

Dr. Benjamin G. Cohrs [20.02.2004]

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Komponisten und Werke der Einspielung

Tr.Komponist/Werkhh:mm:ss
CD/SACD 1
Arnold Bax
1Sinfonie Nr. 1 Es-Dur (1921/1922)
2Sinfonie Nr. 2 e-Moll (1924/1926)
3Sinfonie Nr. 3 (1928/1929)
4Sinfonie Nr. 4 (1930)
5Sinfonie Nr. 5 (1931/1932)
6Sinfonie Nr. 6 (1934/1935)
7Sinfonie Nr. 7 (1939)
8Tintagel (Tondichtung, 1919)
9Rogue's Comedy Overture (1936)
Unbekannt
10Interview mit Vernon Handley über Bax und die Sinfonien

Interpreten der Einspielung

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