Sony Classical S2K 63174
2 CD • 2h 16min • 1997
01.02.1999
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Es gibt nicht wenige Opernfreunde, die bei der Nennung des Worts "Originalfassung" den Verdacht schöpfen, daß dabei irgendwie und irgendwo "gemogelt" wird, daß sich die Sänger – unter Berufung auf das authentische Notenbild – um hohe Spitzentöne und sonstige Schwierigkeiten der Vokalpartien herumdrücken wollen. Im Fall der neuen, als Originalversion deklarierten "Lucia" sind solche Befürchtungen nicht am Platz. Sir Mackerras ist, wie längst bekannt, ein profunder Kenner musikhistorischer Gepflogenheiten, er läßt daher sehr wohl Koloraturen, hohe Töne und Auszierungen zu, die nicht in Donizettis Partitur stehen. Nur sind das zum Großteil andere Ornamente, als jene, die landauf, landab in den "Lucia"-Vorstellungen und Plattenaufnahmen erklingen. Gemeinsam mit dem Musikforscher Will Crutchfield hat Mackerras den Vokalpartien Kadenzen und Fiorituren beigegeben, wie sie in Donizettis Zeitalter in Gebrauch standen. Was Mackerras in dankenswerter Weise abgestellt hat, ist die heute fast schon zur Plage gewordene Sopranistinnen-Manier, die Arien- oder Ensembleschlüsse mit lang gehaltenen hohen Pfeiftönen zu verunstalten. Es fehlt auch das bekannte (aber keineswegs wohlbekannte) Flöten-Duo der Lucia in ihrer "Wahnsinnsarie". Über die Herkunft dieser nach wie vor in Gebrauch stehenden Kadenz gibt es verschiedene Mutmaßungen, sicher ist, daß sie erst im späten 19. Jahrhundert aufgekommen ist. Mackerras nennt die Gesangspädagogin Marchesi oder auch die Sängerin Melba als mögliche Urheberin, was allerdings nicht sehr wahrscheinlich ist. Vermutlich stammt das Stück von dem Flötisten und Mitglied des Wiener Hofopernorchesters Franz Doppler (+ 1883), der seinerzeit Anspruch auf ihre Autorschaft erhoben hat. Ganz richtig vermerkt Mackerras in seinem ausführlichen Textbeitrag, daß diese fatale Kadenz zur Folge hatte, daß die Rolle der Lucia ganz in das Besitztum der hohen Koloratursoprane übergegangen ist, wo sie ursprünglich gar nicht hingehörte. Die Partie wurde ja einst auch von tiefen Sopran- und sogar von Mezzostimmen (Giuditta Pasta, Pauline Viardot-Garcia) gesungen. Ein zweites rekonstruktives Element der Aufnahme liegt in der orchestralen Wiedergabe, die durch das britische Alte-Musik-Ensemble Hanover Band, mit historischen Instrumenten vollführt wird. Es kommt dadurch ein Klang von höchster Transparenz und Prägnanz zustande, der Donizettis Melodien wie in neuem Licht erscheinen läßt.
Im Vokalensemble stehen zwei Leistungen an vorderster Stelle: der Tenor Bruce Ford gestaltet die Rolle des Edgardo mit Feingefühl, Eleganz und stimmlicher Geschmeidigkeit. Auch Anthony Michaels-Moore als Enrico kann mit voluminöser Baritonstimme und dramatischem Vortrag fesseln. Weit weniger günstig fiel die Besetzung der Titelrolle aus. Andrea Rost zeigt artiges Bemühen, doch ihr Gesang berührt nicht, bleibt bleich und wesenlos. Somit eine Aufnahme mit einigen gesanglichen Unebenheiten, dennoch als Versuch, eine weltweit bekannte, abgenützte Oper, vom ungehörigen Beiwerk zu befreien und möglichst ihrem Urbild anzunähern, hoch zu werten.
Clemens Höslinger [01.02.1999]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Gaetano Donizetti | ||
1 | Lucia di Lammermoor |