Lepo Sumera
Symphonies Nos. 1 & 6

Ondine ODE 1449-2
1 CD • 53min • 2023
22.05.2025
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Lepo Sumera (1950–2000) ist trotz seines tragisch frühen Herztods bis heute wohl der wichtigste estnische Symphoniker der Nachkriegszeit. Der letzte Schüler des legendären Heino Eller – durch dessen Unterricht noch Eduard Tubin oder Arvo Pärt gegangen waren – hatte sich recht früh von der Dodekaphonie abgewandt und in sechs Symphonien, die für sein Schaffen prägende Gattung, verschiedene stilistische Wandlungen durchlebt. Ähnlich dem Ukrainer Valentin Silvestrov entwickelte er – ohne Kenntnis entsprechender US-amerikanischer Werke – ab den frühen 1980er Jahren Musik, die oberflächlich betrachtet eine sehr individuelle Erscheinungsform des Minimalismus auszubilden scheint, jedoch deutlich vielschichtiger ist und deren Wiederholungsmuster ihren Ursprung im archaischen, estnischen Runengesang haben. Sumera war von 1988–1992 estnischer Kulturminister, also während des Übergangs vom Sowjetstaat bis zur unabhängigen, demokratischen Nation eine prägende Kraft nicht nur für das erstaunliche Musikleben dort. Erkki-Sven Tüür, dessen Symphonik ihn mittlerweile rein zahlenmäßig überholt hat, studierte privat bei Sumera.
Rätselhaft atmosphärische Erste Symphonie
Sumeras 1. Symphonie (1981) ist zweisätzig und baut auf simplen diatonischen Bausteinen auf: glockenartige Dreiklänge und eine absteigende phrygische Skala. Daraus und aus einem einsamen Celesta-Motiv entsteht in nordischer Gelassenheit vor allem durch rhythmische Verschiebungen oder Überlagerungen – teils mittels gelenkter Aleatorik à la Lutosławski – eine symphonische Landschaft von unterkühlter Schönheit, durchaus mit Höhepunkten. Der zweite Satz beginnt mit indifferenten, chromatischen Skalen der hohen Streicher, die sich später zu einem kurzen Corelli-Zitat zusammenballen, was dann auch wieder typisch nordisch klingt: wie später Sibelius. Ein groteske Marsch-Verballhornung erinnert sofort an die Ironie Schostakowitschs oder Mauricio Kagels. Schließlich kehrt die Musik zu den Anfangselementen zurück und gefriert zur Stille. Die Schlussakkorde sind identisch mit denen von John Adams‘ Shaker Loops – und heute wissen wir, dass dieser sich auf Sumeras Stück bezieht und nicht etwa umgekehrt.
Sumeras Sechste: ein Schwanengesang
Die 6. Symphonie, ebenso zweisätzig, ist Lepo Sumeras letztes und wohl beeindruckendstes Werk – ohne Zweifel eine musikalische Großtat. Hier begegnet man der Summe von dessen musikalischer Erfahrung und einem offenkundig dramatischeren Konzept; alles erscheint deutlich komplexer, ohne an Klarheit zu verlieren. Der erste Satz – den man jedoch auch wie die ersten drei einer „klassischen“ Symphonie begreifen könnte – geht mit auf gemeinsamer Basis strukturiertem Material zunächst dialektisch um, danach über ein variationsmäßiges Konzept wie in einem langsamen Satz und einer Art Scherzo. Die vielfältigen Farbmischungen, die Emotionalität und die Zielgerichtetheit dieser Musik sind in jeder Hinsicht überzeugend – noch mehr im ruhigen 2. Satz, der den Tiefgang langsamer Mahler-Finale erreicht.
Olari Elts oder Paavo Järvi?
Der junge Paavo Järvi hat alle Symphonien Sumeras bereits für BIS eingespielt: mit zwei verschiedenen Orchestern. Bei der 1. Symphonie gelang es Järvi, eine dichtere, zugleich geheimnisvollere Atmosphäre zu schaffen als der derzeitige Chef des Nationalen Symphonieorchesters Estlands, Olari Elts. Dieser erzielt – nicht zuletzt dank exzellenter, die BIS-Aufnahmen nochmals übertreffender Aufnahmetechnik mit toller Dynamik – immerhin mehr Durchsichtigkeit. Die Klangfarben scheinen präziser definiert, aber es fehlt Elts in beiden Sätzen an Überblick und Binnenspannung. Man hat über Strecken den Eindruck, das Orchester hangele sich akademisch am Notentext entlang, ohne die Teleologie des Ganzen zu verstehen. Bei der 6. Symphonie ist es eher umgekehrt: Hier ist die entwickelnde symphonische Gestaltung – in einem ganz traditionellen Sinn – bei Järvi nicht immer konsistent; und insbesondere der Finalsatz erweist sich bei Elts als emotional tragfähiger und berührender. Insgesamt machen die Unterschiede – einschließlich der Temponahmen – keinen Klassenunterschied aus, und ein endgültiges Urteil wird man sich sowieso erst nach Vollendung des zweiten CD-Zyklus erlauben dürfen. Von höchstem Repertoirewert sind die neuen Einspielungen allemal. Selbst ein Symphoniker vom Range Sumeras gerät doch allzu schnell in völlige Vergessenheit, wenn seine Musik nicht regelmäßig adäquat zur Diskussion gestellt wird.
Vergleichsaufnahmen: [Symphonie Nr. 1] Malmö Symphony Orchestra, Paavo Järvi (BIS CD-660, 1994); [Symphonie Nr. 6] Estonian National Symphony Orchestra, Paavo Järvi (BIS CD-1360, 2001).
Martin Blaumeiser [22.05.2025]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Lepo Sumera | ||
1 | Sinfonie Nr. 1 | 00:30:20 |
3 | Sinfonie Nr. 6 | 00:22:31 |
Interpreten der Einspielung
- Estonian National Symphony Orchestra (Orchester)
- Olari Elts (Dirigent)