Eugène Ysaÿe
6 Sonatas for Violin solo Op. 27
TYXart TXA22171
1 CD • 60min • 2017, 2020, 2021
04.06.2023
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Im Juli 1923, also vor ziemlich genau 100 Jahren, skizzierte der 65-jährige Eugène Ysaÿe inspiriert durch Joseph Szigetis Interpretation von Bachs Solosonate BWV 1001 binnen gerade einmal 24 Stunden – ein echter kleiner Schaffensrausch also – seinen eigenen Zyklus von sechs Sonaten für Violine solo, die ein Jahr später als sein Opus 27 publiziert wurden. Szigeti ist auch der Widmungsträger der ersten Sonate, die übrigen fünf sind jeweils anderen Geigern der damaligen Zeit gewidmet, darunter so illustre Namen wie Jacques Thibaud, George Enescu oder Fritz Kreisler. Elena Denisovas Neuaufnahme dieses Zyklus, der zu den unbestrittenen Gipfelpunkten der Musik für Solovioline zählt und speziell in den letzten drei Jahrzehnten noch einmal einen beträchtlichen Popularitätsschub in Form von CD-Einspielungen erlebt hat, entstand zwischen 2017 und 2021, wobei jede Sonate an einer anderen historischen Wiener Stätte eingespielt wurde.
Kraftvoll-expressive, intensive Interpretationen
Gleich der Beginn lässt aufhorchen, denn die schiere Intensität von Denisovas Spiel, kombiniert mit der hallgesättigten Akustik des Leopold Museums, erzeugt in den ersten Takten der Sonate Nr. 1 fast den Eindruck, als höre man hier mehrere Violinen unisono. So werden bereits hier einige der wesentlichen Charakteristika von Denisovas Interpretationen offenbar: ihre Lesart ist dezidiert kraftvoll-expressiv, eher schwerblütig, romantisch-bravourös, auch dann, wenn sich Ysaÿe deutlich an barocke Modelle anlehnt wie etwa in der Fuge im Kopfsatz der Sonate Nr. 4, die Denisova mit einigem Rubato und eher fantasievoll-frei als streng begreift. In der Tat ist der Bezug auf Bachs Sonaten und Partiten (der sich übrigens bis zu einem gewissen Grad bereits in der Wahl und Abfolge der Tonarten nachvollziehen lässt) eine Seite von Ysaÿes Opus 27, besonders deutlich nachvollziehbar in den Sonaten Nr. 1, 2&4 (sogar im „Dialog“ mit Bach zu Beginn der Sonate Nr. 2). Ebenso sehr aber stellt der Zyklus ein Kompendium von Facetten der Musik des frühen 20. Jahrhunderts und vom damaligen Status quo der technischen Möglichkeiten der Violine dar. Hier begegnet man dichter Chromatik à la Reger ebenso wie Einflüssen französischer Musik bis hin zum Impressionismus, und die einsätzigen Sonaten Nr. 3 und 6 sind faktisch etwas ausgedehntere Charakterstücke, die osteuropäische bzw. spanische Folklore verarbeiten. Spieltechnisch werden dabei alle Register gezogen, es geht hier auch um das Ausloten von Grenzen, und es ist nicht zuletzt dieser Aspekt, den Denisova besonders in den Vordergrund stellt.
Große Geste und gestalterische Freiheiten
Alle Aufnahmen entstanden offenbar live (wenngleich ohne Publikum?), und so sei – neben der je nach Aufnahmeort durchaus wechselnden Akustik – darauf hingewiesen, dass man hier und da Kleinigkeiten wie z.B. einem versehentlich in C-Dur (statt c-moll) gespielten Takt gegen Ende des 3. Satzes der Sonate Nr. 1 oder gewissen Abstrichen etwa in der Intonation in besonders heiklen Passagen (Dezimen am Schluss der Sonate Nr. 3) begegnet. In der Regel sind dies Details, die den Gesamteindruck nicht wesentlich trüben; allerdings stellt Denisova generell gestalterische Freiheiten, gerne auch die große Geste über Präzision im Detail. Manchmal, etwa dann, wenn sie Pausen (mit Fermate) gerne einmal doch arg kurz nimmt (Kopfsatz der Sonate Nr. 2, Sonate Nr. 6), wenn sie die Schlussakkorde der Sonate Nr. 2 alles andere als secco auffasst, sondern mit einer ganz erheblichen Fermate versieht, oder wenn gerade in der (horrend schweren, und auf dieser CD vielleicht problematischsten) Sonate Nr. 6 Ysaÿes vertrackte Rhythmik (bei aller entschiedenen Befürwortung eines angemessenen Rubatos!) stellenweise nur schwer nachvollziehbar erscheint, ist allerdings die Balance zwischen einer freien, assoziationsreichen, packenden Interpretation und Akkuratesse in der Realisierung des Notentextes etwas aus dem Tritt zu geraten. Einige der zurückgenommeneren Stellen (u.a. dolce tranquillo im 2. Satz, amabile im 3. Satz der Sonate Nr. 1 mit Dynamik bis zum dreifachen Piano, die Melancolia im 2. Satz der Sonate Nr. 2) erscheinen außerdem zu direkt, zu kräftig.
Obsession und Ausloten von Grenzen
In gewisser Hinsicht stellt die Aufnahme einen Gegenpol zu Frank Peter Zimmermanns klassischer Einspielung dar, bei der die Sonaten allen Schwierigkeiten zum Trotz teilweise regelrecht leichtfüßig klingen; das silbrig-feine, zurückhaltende Timbre von Zimmermanns Spiel findet man in Denisovas Aufnahmen nicht, dafür aber umso stärker die „Obsession“, mit der der 1. Satz der Sonate Nr. 2 betitelt ist. Das Beiheft ist ausgesprochen dünn gehalten: zu den Sonaten findet man eine achtzeilige Referenz durch Denisova selbst, der zwar grundsätzlich zuzustimmen ist, aber zu den Werken gäbe es natürlich erheblich viel mehr zu sagen (der Rest des einseitigen Kommentars ist eher Porträt denn Biographie Denisovas). In seinen besten Momenten ein Album, das durch seine kompromisslose Expressivität fesselt.
Holger Sambale [04.06.2023]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Eugène Ysaÿe | ||
1 | Sonate g-Moll op. 27 Nr. 1 für Violine solo | 00:15:08 |
5 | Sonate a-Moll op. 27 Nr. 2 für Violine solo (über das Präludium aus der Partita E-Dur von Johann Sebastian Bach. À Jacques Thibaud) | 00:11:21 |
9 | Sonate d-Moll op. 27 Nr. 3 für Violine solo (Ballade, à Georges Enescu) | 00:06:20 |
10 | Sonate e-Moll op. 27 Nr. 4 für Violine solo | 00:11:12 |
13 | Sonate G-Dur op. 27 Nr. 5 für Violine solo (à Mathieu Crickboom) | 00:09:09 |
15 | Sonate E-Dur op. 27 Nr. 6 für Violine solo | 00:06:12 |
Interpreten der Einspielung
- Elena Denisova (Violine)