Terza Pratica II
Alexandre Rabinovitch-Barakovsky
Gallo CD-1446-1447
2 CD • 2h 21min • 1998, 2000, 1978, 2014
19.10.2016
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Gibt es ein Perpetuum Mobile? Alexandre Rabinovitch-Barakovsky nähert sich diesem physikalischen Prinzip zumindest auf musikalischem Wege an. Was hier erklingt, manchmal farbenreich zu etwas neuem mutiert, unterschiedliche Steigerungsmomente oder Verdichtungen produziert, ist doch im Grunde ein Kontinuum ohne Anfang und Ende. Man kann überall einsteigen – und sich in einen ewig pulsierenden Ozean hinein ziehen lassen!
Fünf auf dieser Doppel-CD vereinte Kompositionen aus verschiedenen Wirkungszusammenhängen und Schaffensepochen repräsentieren Alexandre Rabinovitchs persönliche, von Moden und Zeitströmungen losgelöste Spielart von „Minimal Music“ - wenn man einmal den komplexen ästhetischen und auch arithmetischen Überbau, den der Komponist selber für sein Schaffen formuliert, auf diesen Stilbegriff reduzieren will. Diese langen, konsequent repetitiven Stücke, die sich hier meist halbstündig ausbreiten, haben ohne Zweifel viel davon.
In der Reduktion des tonalen Materials mutet Rabinovitch-Barakovksys Ansatz sogar noch radikaler als bei den berühmten amerikanischen Meistern dieses Genres an. Ein melodisches Motiv, vielleicht eine lyrische Phrase oder auch eine chromatische Skala ist meist der unverrückbare Kern, auf dessen Grundlage es in kontinuierlichen Atemzügen beständig auf und abwärts geht. Das hat schon etwas sehr statisches. Aber es wirkt nicht so, denn Rabinovitch-Barakovsy bietet ein riesiges Arsenal auf, damit die gleichförmigen Bewegungen mit immer neuem instrumentalen, klanglichen, lyrischen Reichtum aufgeladen werden. Somit ist das scheinbar statische plötzlich sehr dynamisch, lebendig und wandelbar!
Das Pianistische und das Orchestrale sind zwei kontrastierende Prinzipien, die sich hier hellhörig vereinen. Und auch die eigene persönliche und künstlerische Verbindung mit der „Jahrhundertpianistin“ Martha Argerich wirkte sich überaus produktiv aus: Martha Argerich trägt mit ihrem perkussiv pulsierenden Celestaspiel das musikalische Geschehen über weite Strecken voran, vor allem beim ersten Stück, in Tokio uraufgeführten Stück Incanations von 1996.
Gleich dreisätzig kommt es im Jahr 2000 in der Kölner Philharmonie zur Reflexion über „die Zeit“. Wirkungsvoll komplettieren im gleichnamigen Stück Lucia Hall und Mark Drobinksy auf einer jeweils elektronisch manipulierten Violine und einem Violoncello einen feinnervigen kammermusikalischen Kosmos. In Paris führte Alexandre Rabinovitch-Barakovsky sein Requiem pour une marée noire auf. Die zugrunde liegende Auswahl aus einer Gedichtsammlung von Fyodor Tyutchav artikuliert tragische, ja apokalyptische Lebensaspekte. Aber gemäß dem philosophischen Credo von Alexander Rabinovitch-Barakovsky geht das eine nie ohne das andere, also entbehrt die Tragik auch nie der Schönheit. Zumindest macht der eindringliche Gesang von Danielle Borst diese Ambivalenz hautnah erfahrbar.
Die zweite CD wechselt die Perspektive - weg von den orchestralen Geniestreichen (man kann den Reichtum an Arrangements und Klangfarben durchaus so bezeichnen) und hin zur komplex-nachforschenden und zugleich spieltechnischen kühnen Pianistik von Alexandre Rabinovitch-Barakovsky. Das dreisätzige Trois Manas, das hier in einem Livemitschnitt aus Moskau vorliegt, greift auf elektronische Verfremdungen zurück, die eine eigenwillige Aura vom Klavier als „Maschine“ zum Erzeugen von Tönen verströmen.
Schließlich und endlich führt das letzte Stücke Discours sur la Délivrance in einer Liveaufnahme aus dem Kleinen Goldenen Saal in Augsburg vor allem das Cello in spektakuläre Rampenlicht. Das pulsierende Spiel von Piano, Vibrafonen und auch Syntheziser findet im brillant gleißenden, manchmal auch rauhen und immer obertonreichen Streicherklang einen geradezu haptisch fühlbaren Kontrast.
So meditativ die Höreindrücke als solche sind, so sehr kann das Studium des englischsprachigen Booklets mithelfen, um der künstlerischen Philosophie von Alexandre Rabinovitch-Barakovsky wenigstens in zarten Ansätzen zu folgen. Als elementares Prinzip lässt sich eine Gleichzeitigkeit von Emotion, Spiritualität und geradezu mathematischer Formstrenge heraus lesen. Der Weg zu höheren Sphären ist immer durch eine präzise Mechanik getaktet. Und die ganze Vielfalt an Klängen und Ideen ist nicht mehr länger ein Chaos, wenn alles auf ein klar definiertes Ich als ordnendes Prinzip zuläuft. So etwa könnte ein Interpretationsversuch lauten. Aber „einfach nur“ hören und sich den Wellenbewegungen dieser lyrischen, konsequent tonalen Musik hinzugeben und sich über alle einengenden Begriffe von Raum und Zeit zu erheben – so etwas funktioniert bei den Terza Practica natürlich genauso.
Stefan Pieper [19.10.2016]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Alexandre Rabinovitch-Barakovsky | ||
1 | Incantations | 00:24:35 |
2 | Die Zeit | 00:28:53 |
5 | Requiem pour une marée noire | 00:20:50 |
CD/SACD 2 | ||
1 | Troi Manas | 00:38:27 |
4 | Discours sur la Déliverance | 00:28:00 |
Interpreten der Einspielung
- Martha Argerich (Celesta, Klavier)
- Hibiki Chamber Orchestra (Orchester)
- Alexandre Rabinovitch-Barakovsky (Klavier, Dirigent)
- Lucia Hall (Violine)
- Mark Drobinsky (Violoncello)
- Danielle Borst (Sopran)
- Frédéric Macarez (Percussion)