Gloria
Carus 83.403
1 CD • 59min • 2002
09.02.2004
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Nach einer ersten Carus-CD mit doppelchörigen Psalmen findet das Vivaldi-Projekt aus Tallinn seine schlüssige Fortsetzung mit dem Kyrie „in due cori“ RV 587, dem einzigen aus der Feder des „prete rosso“, das uns erhalten blieb. Tonu Kaljuste setzt es an den Beginn einer imaginären Messe, die noch das Gloria RV 589 und das Credo RV 591 umschließt. Die andere, Vivaldis zweite Gloria-Vertonung RV 588, klammert er aus (oder spart er auf), aber damit wäre der schmale Werkbestand ohnehin bereits erschöpft. Die wenigen zweifelsfrei überlieferten Beiträge des venezianischen Komponisten zum Ordinarium missae sind gering an Zahl, musikalisch freilich „ein weites Feld“.
Die estnischen Musiker nähern sich diesen Kompositionen wahrhaft andächtig, sie wählen die Weise der Betrachtung, der Kontemplation, die selbst der spannungsreichsten Harmonik eine tiefe innere Ruhe verleiht, eine leuchtende Schönheit, eine weise Gelassenheit. Hinsichtlich technischer Meisterschaft, Virtuosität und Präzision lassen sie keine Wünsche noch des verwöhntesten Hörers offen. Chor und Orchester müssen den Vergleich mit der westlichen Prominenz nicht scheuen, im Gegenteil: ihr Wissen um die Musik scheint tiefer gegründet, durchgeistigter, geheimnisvoller, ein eigenes Zeitmaß lenkt Gedanken und Atemzüge. Nennen wir es Spiritualität, Versenkung oder wie auch immer – eine Erfahrung jedenfalls, die sich bei John Eliot Gardiners brillanter Einspielung des Gloria (Philips, 2001) keineswegs aufdrängt.
Gleichwohl ließen sich gegen Kaljustes Vivaldi-Andacht auch Einwände vorbringen: Sollte diese Musik nicht zuweilen und andeutungsweise von Klage, Skepsis, den Erschütterungen des Glaubens sprechen? Im Magnificat RV 610, das die CD ergänzt und beschließt, wird sogar das Et misericordia, das Herzstück des Canticum, zum Zeugnis weltentrückter Abgeklärtheit. Welche Anspannung und Zerrissenheit dieser Satz birgt, enthüllt dagegen eine Aufnahme des Tafelmusik Chamber Choir (Hyperion, 1987), der mit ausgefeilter Deklamation eine beklemmende Atmosphäre zwischen Hoffen und Bangen erzeugt. Tonu Kaljuste aber erkundet eine andere als die psychologische oder dramatische Wahrheit, er umkreist die verlorene Mitte, meidet alles Phantastische und Exzentrische (in auffallendem Gegensatz zur vorherrschenden Vivaldi-Interpretation der vergangenen Jahre).
Vielleicht würde der estnische Dirigent mit dem Lyriker Walter Neumann übereinstimmen, der in einem Gedicht über Vivaldi bekannte: „Schöne Musik. / Du bewahrst ein Erinnern / an das ungeschiedene Sein, / heiter und leuchtend.“
Wolfgang Stähr [09.02.2004]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Antonio Vivaldi | ||
1 | Kyrie RV 587 | |
2 | Gloria D-Dur RV 589 | |
3 | Credo e-Moll RV 591 | |
4 | Magnificat RV 610 |
Interpreten der Einspielung
- Kaia Urb (Sopran)
- Vilve Hepner (Sopran)
- Anna Zander (Alt)
- Mati Turi (Tenor)
- Estonian Philharmonic Chamber Choir (Chor)
- Tallinn Chamber Orchestra (Orchester)
- Tonu Kaljuste (Dirigent)