Ernsthaft?!
Witz und Wahn in Liedern von Zemlinsky, Schönberg und Daigger
Genuin GEN 21758
1 CD • 60min • 2021
22.05.2022
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Das ist einmal ein sehr originelles Debüt-Album, das die Mezzosopranistin Alice Lackner und die Pianistin Imke Lichtwark da bei Genuin vorgelegt haben! Weniger bekannte Gesänge vom frühen Arnold Schönberg und von Alexander von Zemlinsky, verbunden mit Ersteinspielungen von Kompositionen Sven Daiggers, der zur Generation der beiden Künstlerinnen gehört. Beim Titel „Ernsthaft?!“ ist das Fragezeichen ebenso bedeutungsvoll wie das Ausrufezeichen, auch wenn der Untertitel „Witz und Wahn“ deutlich humoristische Akzente setzt. Die sind vor allem in den Beiträgen für das Berliner Kabarett „Überbrettl“ relevant. 1901 gegründet von Ernst von Wolzogen, dem Librettisten von Richard Strauss’ Feuersnot, war es das erste literarische Kabarett überhaupt, dem im frühen 20. Jahrhundert weitere folgten. Der Begriff wurde von Otto Julius Bierbaum geprägt, der zu den meist vertonten Lyrikern des Fin-de-siècle gehörte, aber auch eine ausgeprägte satirische Ader besaß. Mit Blick auf Nietzsche kündigte er in seinem Roman Stilpe an: „Wir werden den Übermenschen auf dem Brettl gebären!“ Nicht nur er, sondern auch andere anerkannte Autoren wie Dehmel, v. Liliencron, Schnitzler, Wedekind und Morgenstern lieferten Texte für die neue Bühne, deren musikalischer Leiter Oscar Straus war.
Pointierter Vortrag
Noch im Gründungsjahr gab das Ensemble ein Gastspiel im Wiener Carltheater, dessen Chefdirigent Alexander von Zemlinsky von dem Unternehmen so begeistert war, dass er spontan die beiden Brettl-Lieder In der Sonnengasse (Text: Arno Holz) und Herr Bombardil (Text: Rudolf Alexander Schröder) komponierte. Sein Schüler und Freund Arnold Schönberg folgte ihm mit acht weiteren Liedern nach und wurde von Wolzogen für Berlin als Kapellmeister unter Vertrag genommen, war dann aber nur vorübergehend fürs „Überbrettl“ tätig.
Die beiden Zemlinsky-Lieder und vier von Schönbergs Beiträgen zum Brettl-Genre (darunter ein Langsamer Walzer auf einen Text von Emanuel Schikaneder) sind in dem Recital von Alice Lackner und Imke Lichtwark zu hören und sie haben, obwohl sie ja sehr ihrer Zeit verhaftet sind, im pointierten Vortrag der beiden Künstlerinnen auch nach über hundert Jahren keinen Staub angesetzt. Eine Brücke zur Gegenwart schlägt Sven Daigger (Jg. 1984), der hier mit Windgespräch (2013, auf einen Text von Christian Morgenstern) und dem vierteiligen Vereinsamt (2020/21, Text: Friedrich Nietzsche) vertreten ist sowie – gleichsam als „Hinausschmeißer“ – dem witzigen Arno-Holz-Song Abfertigung. Daigger arbeitet mit musikalischen Zitaten (Brahms, Schubert) und verdoppelt die Gesangsstimme mit elektronischen Zuspielungen. Die Sängerin kann hier die Möglichkeiten ihres lyrischen Mezzos, der mehr zum Sopran als zum Alt neigt, und ihre intellektuelle Gestaltungskraft voll ausreizen.
Einfühlsame Interpretationen
Ganz ernsthaft, ohne jedes Fragezeichen, beginnt das Programm mit Zemlinskys Sechs Gesängen nach Gedichten von Maurice Maeterlinck op. 13, in den Jahren 1910-13 erst in einer Klavierfassung komponiert und später auch in eine Orchesterversion gebracht. Symbolistische Dichtungen, die teils offen, teils verklausuliert um das Thema Tod kreisen. Auch wenn die Übersetzung von Friedrich von Oppeln-Bronikowski gelegentlich sehr frei mit dem Original umgeht, wird der Geist der Gedichte in Zemlinskys sehr dichter und harmonisch abwechslungsreicher Vertonung lebendig und Sängerin wie Pianistin treffen die Dämmerlicht-Stimmungen mit ihrem intimen Vortrag bewundernswert gut.
Diese Intimität erreichen sie auch in der Wiedergabe von Schönbergs Vier Liedern op. 2, die der junge Komponist 1899 in einem gemeinsamen Sommerurlaub mit Zemlinsky im niederösterreichen Payerbach begann und in den folgenden Monaten vollendete. Drei Gedichte aus Richard Dehmels erotischem Zyklus Weib und Welt und ein Text von Johannes Schlaf (Waldsonne) trafen wohl den damaligen Gefühlszustand Schönbergs, der noch ganz auf den Spuren der Spätromantik wandelte und sich gerade in Zemlinskys Schwester Mathilde verliebt hatte, seine spätere Frau. Alice Lackner entspricht dem Stil der Lieder mit geschmeidigem, aber nie gefühligem Gesang und findet in der sensiblen, mit elfengleicher Schwerelosigkeit agierenden Pianistin Imke Lichtwark eine ideale Partnerin.
Das Booklet dieses empfehlenswerten Debüt-Albums enthält die Liedtexte, sachkundige und gut geschriebene Werkeinführungen der Sängerin und ein aufschlussreiches Gespräch mit dem Komponisten Sven Daigger.
Ekkehard Pluta [22.05.2022]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Alexander Zemlinsky | ||
1 | Die drei Schwestern op. 13 Nr. 1 (aus: Sechs Maeterlinck-Gesänge op. 13) | 00:03:25 |
2 | Die Mädchen mit den verbundenen Augen op. 13 Nr. 2 (aus: Sechs Maeterlinck-Gesänge op. 13) | 00:02:13 |
3 | Lied der Jungfrau op. 13 Nr. 3 (aus: Sechs Maeterlinck-Gesänge op. 13) | 00:02:08 |
4 | Als ihr Geliebter schied op. 13 Nr. 4 (aus: Sechs Maeterlinck-Gesänge op. 13) | 00:01:50 |
5 | Und kehrt er einst heim op. 13 Nr. 5 (aus: Sechs Maeterlinck-Gesänge op. 13) | 00:02:36 |
6 | Sie kam zum Schloß gegangen op. 13 Nr. 6 (aus: Sechs Maeterlinck-Gesänge op. 13) | 00:04:24 |
7 | In der Sonnengasse (I - Brettl-Lied) | 00:01:47 |
8 | Herr von Bombardil (Brettl-Lied) | 00:01:53 |
Sven Daigger | ||
9 | Windgespräch | 00:03:29 |
Arnold Schönberg | ||
10 | Erwartung op. 2 Nr. 1 | 00:03:47 |
11 | Schenk mir deinen goldnen Kamm op. 2 Nr. 2 | 00:03:52 |
12 | Erhebung op. 2 Nr. 3 | 00:01:05 |
13 | Waldsonne op. 2 Nr. 4 | 00:03:12 |
14 | Gigerlette (aus: Brettl-Lieder) | 00:01:59 |
15 | Der genügsame Liebhaber (aus: Brettl-Lieder) | 00:02:36 |
16 | Mahnung (aus: Brettl-Lieder) | 00:03:18 |
17 | Langsamer Walzer (aus: Brettl-Lieder) | 00:03:21 |
Sven Daigger | ||
18 | Vereinsamt | 00:10:03 |
22 | Abfertigung | 00:05:35 |
Interpreten der Einspielung
- Alice Lackner (Mezzosopran)
- Imke Lichtwark (Klavier)