Franz Xaver Scharwenka
Piano Concerto No. 1 • Symphony C minor
cpo 555 571-2
1 CD • 70min • 2022
09.09.2024
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
2024 haben nicht nur einige wichtige Komponisten einen runden Geburtstag, sondern wir gedenken ebenso des 100. Todestages von Busoni, Fauré, Puccini, Stanford – und (Franz) Xaver Scharwenka (1850–1924). Als Schüler Theodor Kullaks stieg der aus der Nähe von Posen stammende Künstler mit deutsch-polnischen Wurzeln rasch zum gefeierten Klaviervirtuosen auf, wurde von Liszt gefördert, machte aber bald auch als durchaus erfolgreicher Komponist von sich reden; sein Ruf als Pädagoge war lebenslang geradezu legendär. Anders als die häufig in sich gekehrte Musik seines jüngeren Bruders Philipp sind gerade Xavers wenige Orchesterwerke – darunter vier Klavierkonzerte – völlig extrovertiert.
Weltklasse-Darbietung des 1. Klavierkonzerts durch Jonathan Powell
Von Scharwenkas Klavierkonzerten hielt sich der mehrfach umgearbeitete Erstling (1873–77) als einziges im Repertoire zumindest der zeitgenössischen Virtuosen. Die pianistischen Anforderungen sind spektakulär, aber das Werk ist zudem ungemein gut orchestriert und hat emotional mehr Tiefgang als die Mehrzahl spätromantischer Solokonzerte. Scharwenkas Musik stand von Beginn an im Spannungsfeld zwischen deutschem Akademismus und der Neudeutschen Schule, und bisweilen gelingt ihm fast die Quadratur des Kreises. Formal fällt auf, dass hier anstelle eines langsamen zweiten Satzes ein ungemein quirliges Scherzo steht; ruhigeres Fahrwasser findet sich einzig im Adagio-Mittelteil des Kopfsatzes. Von den spärlichen CD-Aufnahmen des b-Moll Konzerts galt die mit Marc-André Hamelin von 2005 bislang als Referenz. Im 1. Satz schlägt das Poznań Philharmonic Orchestra unter Łukasz Borowicz fast identische Tempi an wie die Schotten unter Michael Stern. Hinsichtlich der Bewältigung des Klavierparts steht der durch schwierigstes russisches Repertoire – Skrjabin und dessen Nachfolger – oder die gigantischen Werke Kaikhosru Sorabjis „kampferprobte“ Brite Jonathan Powell dem Supervirtuosen Hamelin in nichts nach. Unterschiede zeigen sich höchstens in Feinheiten der Artikulation, wo Powell stellenweise überlegter wirkt.
Präzision und Charakter
Das irrwitzige Scherzo spielt der Kanadier tatsächlich noch einen Zahn flotter als Powell, so dass es in Hamelins Lesart deutlich näher an Saint-Saëns oder Tschaikowsky dran ist, während Powell noch die Verbindungen zu Mendelssohn und Chopin herausstellt. Die rhythmisch intrikate Verschiebung der rasenden Akkordbrechungen über beide Hände um eine winzige Achteltriole in der Passage nach der ersten Fermate des Satzes gelingt in der Neuaufnahme hörbar präzise, während sie bei Stern und Hamelin nebulös bleibt. Überhaupt ist das Orchester aus Poznań unter Borowicz genauer, sowohl bei Akzenten als auch in der Dynamik. Das kommt dann noch mehr dem Finale zugute, wo – jenseits der Wiederaufnahme von Material des Kopfsatzes – die Verzahnung zwischen Orchester und Solist klanglich enger wird, was in der Tat vortrefflich gelingt. Die Neueinspielung zeigt durchgehend Charakter; Stern begleitet hingegen lediglich einen Solisten, dessen Shownummer schließlich fast langweilig zu werden droht. Powell agiert selbst in der Kadenz differenzierter. Die Repetitionen danach spielt Hamelin zwar unnachahmlich, jedoch überzeugt mich nicht nur der Schluss bei der aktuellen Aufnahme emotional weit mehr als die absehbare und unterkühlte Wiedergabe von Hamelin/Stern, wo das endgültige Umkippen nach b-Moll in seiner Tragik kaum spürbar wird. Zweifellos darf man Powells und Borowicz‘ Darbietung als Weltklasse bezeichnen.
Gerechtigkeit für eine völlig unterschätzte Symphonie
Der einzigen erhaltenen Symphonie Xaver Scharwenkas von 1882 war nicht der gleiche Erfolg beschieden wie seinen Klavierkonzerten, obwohl sie selbst in New York aufgeführt wurde. Die erste kommerzielle Einspielung entstand gar erst 2003 (!). Es ist hier nicht der Raum, alle Qualitäten dieser ganz auf der Höhe ihrer Zeit stehenden Komposition zu loben. Es sei nur auf die erneut großartige Materialeinheit über das gesamte Stück verwiesen. Hörern der erst zweiten Aufnahme wird sicher sofort klar werden, dass dieser völlig zu Unrecht im Verborgenen gebliebene Gattungsbeitrag wieder in den Konzertsaal gehört. Christopher Fifield konnte den Rezensenten zwar musikalisch in fast allen Belangen begeistern, blieb jedoch in Fortissimo-Passagen etwas zurückhaltend, möglicherweise um in der Balance dem kleineren Streicherapparat des Gävler Orchesters gerecht zu werden. Diese Probleme hat Borowicz in Poznań nicht: Da darf auch das Blech mal aufdrehen. Und an Stellen mit geteilten Streichern gefällt die neue Aufnahme dann ebenfalls noch besser. Die musikalische Struktur bleibt bei aller stets adäquat nachgezeichneten Emotionalität dieser sehr romantischen Musik immer klar. Gute Klangtechnik und ein knapper, dabei informativer Booklettext runden die Neuveröffentlichung positiv ab – in dieser Kombination genau das Richtige zum Gedenkjahr.
Vergleichseinspielungen: [Klavierkonzert] Marc-André Hamelin, BBC Scottish Symphony Orchestra, Michael Stern (Hyperion CDA67508, 2005); [Symphonie] Gävle Symphony Orchestra, Christopher Fifield (Sterling CDS-1060-2, 2003)
Künstlerische Qualität: 10 Klangqualität: 10 Gesamteindruck: 10
Martin Blaumeiser [09.09.2024]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Xaver Scharwenka | ||
1 | Klavierkonzert Nr. 1 b-Moll op. 32 | 00:30:35 |
4 | Sinfonie c-Moll op. 60 | 00:39:02 |
Interpreten der Einspielung
- Jonathan Powell (Klavier)
- Poznań Philharmonic Orchestra (Orchester)
- Łukasz Borowicz * 1977 (Dirigent)