J.S. Bach
Six Suites for Cello Suites
Henrik Dam Thomsen
OUR Recordings 8.226921-22
2 CD • 2h 14min • 2024
22.08.2024
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Johann Sebastian Bachs sechs Suiten für Violoncello BWV 1007-1012 könnte man als seine „Italienischen Suiten“ bezeichnen, wäre da nicht die ausgesprochen stark französelnde Fünfte. Besser trifft es als Analogon zum Wohltemperierten Klavier der Pianisten wahrscheinlich „Das Alte Testament der Cellisten“. Doch anders als bei diesem, steht hier ein Neues Testament noch aus. Somit verwundert es nicht, dass jeder Cellist von Rang diese sechs – von Pablo Casals dem Konzertrepertoire wieder zugeführten – Zyklen auf Tonträger verewigen möchte. Henrik Dam Thomsen war sich der Verantwortung derart bewusst, dass er bald 50 Jahre wartete, seine reichen Erfahrungen mit diesen Stücken zu dokumentieren.
Ein rätselhafter Zyklus
Bachs Cello-Suiten geben dem Interpreten zweierlei Rätsel auf:
1. Welche der beiden zeitgenössischen Abschriften – ein Autograph ist nicht erhalten – mache ich zur Grundlage meiner Interpretation, diejenige von Ehefrau Anna Magdalena oder die von Johann Peter Kellner, die eine Menge zusätzlicher Verzierungen und eine andere Setzung der Bindebögen aufweist?
2. Für welches Instrument sind die Stücke überhaupt komponiert, bzw. was verstand man zu Bachs Zeiten unter einem Violoncello?
Bachs Vetter, Freund und Kollege aus Weimarer Tagen, Johann Gottfried Walther schreibt 1732 in seinem Musicalischen Lexikon dazu: „Violoncello, die Bassa di Viola und Viola di Spala sind kleine Baß-Geigen, in Vergleichung der größeren mit 5, auch wohl mit 6 Saiten, worauf man leichtere Arbeit als auf den großen Maschinen allerhand geschwinde Sachen, Variationes und Manieren machen kan; insbesonderheit hat die Viola di Spala oder Schulter-Viole einen großen Effect beim Accompagnement, weil sie starck durchschneiden und die Töne rein exprimiren kann. Sie wird am Bande an der Brust befestigt, und gleichsam auf die rechte Schulter geworfen, hat also nichts, das ihren Resonanz im geringsten aufhält und verhindert …“
Dies passt zu dem Faktum, dass Schulen für das zwischen den Knien gehaltene Cello erst um 1736 in Frankreich auftauchen. Auch sprachlich ergibt es Sinn. Viola (da braccio) wurde zum italienische Name für die mittelalterliche Fidula/Fiedel, deren tiefste Saite auf c° gestimmt wurde. Die Verkleinerungsform lautete Violino (die heutige Geige), die Vergrößerungsform Violone (Bass-Geige). Diese existierte sowohl als 8‘-Instrument (vergleichbar dem heutigen Cello) und ein Oktave tiefer als 16‘-Instrument. Somit war es logisch, einen kleinen geschulterten 8‘-Violone als Violoncello zu bezeichnen.
Somit ist es wahrscheinlich, dass Bach die Cello-Suiten – hervorragender Geiger und Bratscher, der er war, wie seine Zeitgenossen versichern, wohl auf einer Viola da Spalla oder auf der von ihm beim sächsischen Hofinstrumentenmacher Johann Christian Hoffmann als deren Verbesserung beauftragten Viola Pomposa selbst gespielt hat. Zudem waren die nach ihm als Kapellmeister am Köthener Hof bestbezahlten Musiker der Cellist und der Gambist, was darauf schließen lässt, dass sein Dienstherr sonore Streicherklänge schätzte und die Instrumente womöglich selbst spielte und auch, dass Inventare aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sie noch aufführen.
Stilistische Gründe sprechen dafür, dass zumindest die ersten fünf Suiten zeitgleich mit den Englischen Suiten für Clavier sowie der Partita für Flöte BWV 1013 und wohl vor den Sechs Sonaten und Partiten für Violine BWV 1001-1006 entstanden sind. Bei der sechsten Suite mag es sich um einen Nachzügler handeln, da dieser ein fünfsaitiges Instrument und die Erfahrungen mit den Violinwerken voraussetzt. Bemerkenswert, dass sich Bach in den Cello-Werken streng an die klassische Reihenfolge „Prélude, Allemande, Courante, Sarabande Gigue“ hält und zwischen Sarabande und Gigue regelmäßig zwei gleichartige, alternierende „Galanterien“ (Menuett, Gavotte, Bourrée) einbindet.
Gelungene Interpretation
Henrik Dam Thomsen legt seiner Interpretation die Fassung Anna Magdalena Bachs zugrunde, die allgemein als die bessere Lesart gilt. Sie ist, da wohl vom Autograph kopiert, mit nur wenigen Verzierungen versehen. Bei Kellners Abschrift könnte man vermuten, dass seine Vorlage aus der Köthener Hofmusik stammte und daher die zusätzlichen Ornamente aufweist. Vom Komponisten wissen wir, dass er Standard-Verzierungen in seinen Manuskripten ausließ, sie aber seine Schüler in deren Kopien sorgfältig eintragen ließ. Als Beispiele seien hier die Abschriften der Französischen Suiten (J. N. Gerber) und der Orgel-Canzona in d-Moll angeführt. Hier hätte man mehr machen können, wenngleich sich dies bei einer CD-Einspielung – anders als im Konzert – schnell abnutzen kann. Deshalb ist diese Entscheidung zu akzeptieren, zumal sich auch Sigiswald Kuijken in seiner Referenzaufnahme auf einem Violoncello da Spalla diesbezüglich arg zurückhält.
Ungemein positiv wirkt jedoch, dass Henrik Dam Thomsen sich um einen schlank-brillanten Ton bemüht, nichts verdickt und aufplustert, wie man es von vielen Cellisten der Vergangenheit kennt. Selbstverständlich ist die gerade in den Suiten 4 und 5 äußerst heikle Intonation makellos. Interessant, die Sechszehntelgruppen in der Allemande der c-Moll-Suite quasi inégal als Triolen nach vorn zu spielen. Alternativ hätte man auch zu einer sehr weiche Punktierung greifen können. Die souveränste Leistung gelingt Thomsen jedoch in der auf einen viersaitigen Instrument an die Grenzen der Spielbarkeit gehenden sechsten Suite. Dies so locker und elegant sowie ohne jeglichen Druck bis weit in die zweigestrichene Oktave hinauf mit dem Bass abzuliefern ist zweifellos eine Demonstration allerhöchsten Könnens. Er hat es eben nicht nötig, zu demonstrieren, dass jetzt etwas ganz Schwieriges kommt. Er macht ganz einfach Musik draus, egal wie viele Wut- und Verzweiflungsausbrüche es ihn gekostet hat, dahin zu gelangen. Generell zeichnet sich seine Deutung durch flüssige Tempi und wirkliches Tanzen aus. Wenn man bei einer Gavotte oder Bourrée mitwippt, weiß man, dass hier ein Cellist keine Charakterstücke zelebriert, sondern sich über die barocken Tänze genau informiert hat. Bravo!
Klang und Booklet – diesmal sogar mit deutschem Text – entsprechen dem hohen künstlerischen Niveau der Interpretation.
Fazit: Auch wenn für mich Sigiswald Kuijken mit seinem Violoncello da Spalla die Referenz ist, ziehe ich meinen Hut vor Henrik Dam Thomsen und versehe diesen Bach für das 21. Jahrhundert auf modernem Instrument mit einer definitiven Empfehlung. Den Praktikern sei darüber hinaus die exzellente synoptische Darstellung der frühen Quellen, die bei Bärenreiter erschienen sind, ans Herz gelegt.
Vergleichseinspielung: Sigiswald Kuijken Vc. da Spalla, Accent.
Thomas Baack [22.08.2024]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Johann Sebastian Bach | ||
1 | Suite Nr. 1 G-Dur BWV 1007 für Violoncello solo | 00:17:38 |
7 | Suite Nr. 2 d-Moll BWV 1008 für Violoncello solo | 00:20:33 |
13 | Suite Nr. 3 C-Dur BWV 1009 für Violoncello solo | 00:21:18 |
CD/SACD 2 | ||
1 | Suite Nr. 4 Es-Dur BWV 1010 für Violoncello solo | 00:23:53 |
7 | Suite Nr. 5 c-Moll BWV 1011 für Violoncello solo | 00:24:50 |
13 | Suite Nr. 6 D-Dur BWV 1012 für Violoncello solo | 00:30:49 |
Interpreten der Einspielung
- Henrik Dam Thomsen (Violoncello)