Joachim Raff
Welt-Ende • Gericht • Neue Welt
cpo 555 562-2
2 CD • 1h 47min • 2022
20.05.2024
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Angesichts des Ansehens, das Joachim Raff als Symphoniker und Kammermusikkomponist heutzutage verdientermaßen wieder genießt, ist es nur natürlich, dass auch Raffs Schaffen abseits dieser Gattungen zunehmend beachtet und zur Diskussion gestellt wird. So gelangte 2022, im Jahr seines 200. Geburtstags die Oper Samson, das Hauptwerk seiner frühen Jahre, in Weimar erstmals auf die Bühne, und im Leipziger Gewandhaus gedachte man seines Oratoriums Welt-Ende. Gericht. Neue Welt, das er 1882 kurz vor seinem Tode vollendet hatte. Letztere Aufführung unter Leitung des um die Wiederentdeckung hörenswerter Chorwerke sehr verdienten Gregor Meyer wurde nun von cpo auf CD veröffentlicht.
Ein geschmähtes Meisterwerk
Hört man Raffs Oratorium, so fällt es schwer zu glauben, wie schlecht das Werk in der älteren Musikliteratur, etwa in Hermann Kretzschmars Führer durch den Concertsaal und Arnold Scherings Geschichte des Oratoriums, wegkommt – als ob die Autoren seine Eigenheiten nur als Mängel deuten konnten! Besonders stießen sie sich an den Orchesterzwischenspielen im ersten Teil, die die vier apokalyptischen Reiter darstellen: „Instrumentalfarcen“ und „flüchtige Gaukeleien eines Theaterdecorateurs“ habe man hier vor sich... Warum haben Kretzschmar und Schering nicht bemerkt, wie geschickt diese Orchesterstücke motivisch miteinander verbunden und kontrastierend aufeinander bezogen sind? Überhaupt ist ihnen entgangen, dass Raff sein Werk durch ein Netz von Erinnerungsmotiven zusammenhält. Beispielsweise gelangt die einleitende Instrumentalfuge erst am Ende des letzten Teils als chorsymphonisches Stück zu voller Entfaltung. Neben den apokalyptischen Reitern sind noch mehrere weitere Instrumentalstücke in den Verlauf eingebettet. Das Orchester hat einen bedeutenden Anteil am Geschehen. So stellt der Komponist etwa die Auferstehung der Toten in Form einer Passacaglia dar. Dass sich der große Instrumentationskünstler Raff beim Setzen von Kontrasten und Zeichen stellenweise vor allem auf Klangfarbenwirkungen verlässt, wurde ihm als „Spekulieren auf mystische Eindrücke“, gar als etwas „Französisches“ übel genommen. Warum nicht einfach anerkennen, dass er an diesen Stellen große Wirkungen mit verhältnismäßig einfachen Mitteln erreicht?
„Das Buch mit sieben Siegeln“, anno 1882
Da Raff auf originale Bibelworte zurückgreift, ergibt es sich nahezu von selbst, dass der Text über weite Strecken mit demjenigen von Franz Schmidts fünfeinhalb Jahrzehnte später komponiertem Buch mit sieben Siegeln nahezu übereinstimmt. Schmidt hat Raffs Oratorium nicht gekannt. Umso erstaunlicher ist es, beide Komponisten stellenweise ganz ähnliche Mittel verwenden zu hören (siehe das dritte, fünfte und sechste Siegel!). Dass Raffs musikalische Umsetzung der apokalyptischen Schrecken eine der Schmidtschen Vertonung vergleichbare Wucht aus historischen Gründen noch gar nicht haben kann, sollte man ihr nicht zum Vorwurf machen – der chromatische Sturm, den Raff nach Erscheinen des vierten Reiters entfesselt, ist nichtsdestoweniger eindrucksvoll. Auch setzt er andere Schwerpunkte als sein Nachfolger. Findet sich bei Schmidt die „Neue Welt“ am Schluss nur angedeutet, widmet ihr Raff einen eigenen ausführlichen Großabschnitt. Die himmlische Sphäre hat den Komponisten hier zu apollinischen Arien und Chören in edler diatonischer Polyphonie inspiriert, die diesen Teil durchaus als Zielpunkt des Ganzen erscheinen lassen.
Hervorragende vokale Leistungen
Wie Schmidts Oratorium, so steht und fällt auch das Raffsche mit der durchweg präsenten Partie des Johannes. Dieser Herausforderung zeigt sich Andreas Wolf, eine mehr heldische als lyrische Stimme von großer Kraft, vollauf gewachsen. Die Altistin Marie Henriette Reinhold, deren Anteil sich auf relativ wenige Nummern beschränkt, steht dem Bariton im Hinblick auf Stimmvolumen und Gestaltungsfähigkeit nicht nach. Beide Gesangssolisten glänzen zudem durch gute Textverständlichkeit. Durchweg positiv ist auch die Leistung des Gewandhaus Chors zu veranschlagen.
Weniger zum Vorteil der Aufführung trägt die Entscheidung bei, im Orchester die Streicher durchweg vibratolos spielen zu lassen. Was als Stilmittel an geeigneter Stelle durchaus seine Berechtigung hat, bewirkt zusammen mit einer Tendenz zur Vermeidung von Legatospiel letztlich eine gewisse Monotonie, sodass manche Orchesternummer eine unnötige Trockenheit ausstrahlt: siehe etwa bereits die Fuge der Einleitung. Die im Großen und Ganzen sehr lobenswerte, auch klanglich wunderbar eingefangene, Produktion wird abgerundet durch äußerst informative, faktengesättigte Einführungstexte von Ann-Kathrin Zimmermann und Severin Kolb.
Norbert Florian Schuck [20.05.2024]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Joseph Joachim Raff | ||
1 | Welt-Ende • Gericht • Neue Welt op. 212 (Oratorium nach der Offenbarung des Johannes) | 01:46:55 |
Interpreten der Einspielung
- Marie Henriette Reinhold (Alt)
- Andreas Wolf (Bariton)
- GewandhausChor Leipzig (Chor)
- Camerata Lipsiensis (Orchester)
- Gregor Meyer (Dirigent)