Vito Palumbo
Woven Lights
Violin Concerto | Chaconne
BIS 2625
1 CD • 58min • 2016
06.07.2023
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Wieder einmal überbieten sich heute die Stimmen, die von einem „Zivilisationsbruch“ sprechen. Wenn dem so wäre, bestünde die gesamte Menschheitsgeschichte als Kontinuum schlicht aus fortwährenden Zivilisationsbrüchen. Eher schon kann der Begriff des „Paradigmenwechsels“ zutreffen, und dies auch in der Kultur. Einen solchen Wechsel erblicke ich in dem Unterschied zwischen Vittorio Gianninis grandiosem späten Melodram The Medead für hohen Sopran und Orchester, wo sich eine einzige Stimme 40 Minuten gegen die Stürme des vollen Orchesters behaupten muss, und dem nur 18 Jahre später entstandenen In Memory of a Summer Day für verstärkten Sopran und Orchester (1978) von David Del Tredici, wo das vergleichbare Kräftemessen nur noch scheinbar existiert – als hätte die Protagonistin von einem Fahrrad auf ein Motorrad umgesattelt.
Hochattraktives Violinkonzert
Auf dem Gebiet des Violinkonzerts ist ein ähnlicher Sprung zwischen dem späten Violinkonzert (1977) des großen schwedischen Symphonikers Allan Pettersson, in welchem es fast ganz unmöglich ist, das Soloinstrument gegenüber dem Orchester hervortreten zu lassen, und dem Konzert für elektrisch verstärkte Violine von Charles Wuorinen, das sechs Jahre zuvor entstand, zu beobachten. Zu dieser neuen Gattung, die bezüglich der herkömmlichen Anforderungen der Gattung nichts mit dem tradierten Violinkonzert zu tun hat, gehört auch das gut halbstündige, einsätzige Violinkonzert nicht, das Vito Palumbo 2015 komponiert und dem Geiger Francesco D’Orazio gewidmet hat, der es hier mit dem London Symphony Orchestra unter Lee Reynolds erstmals einspielte. Und so kämpft der Solist mit den gleichen Herausforderungen, wie sie seit dem Aufkommen der großen Orchesterbesetzungen bestehen, wobei es natürlich im Aufnahmestudio mit Nachbearbeitung leichter ist, durch das orchestrale Geflecht durchzudringen, als live im Konzertsaal. Ich hoffe jedenfalls, dazu bald Gelegenheit zu haben, denn das Werk ist nicht nur ganz hervorragend, originell und attraktiv, sondern darüber hinaus ist der Komponist ein exzellenter Orchestrator, der in heute singulärer Weise vermag, das ästhetisch Vorandrängende mit dem sinnlich Erfüllenden zu verschmelzen.
Ein weniger wagemutiger Meister hätte heute auf die Vorteile der elektrischen Verstärkung zurückgegriffen, doch ist es Palumbos Sache nicht, „auf Nummer Sicher“ zu gehen. Er gibt der Geige den vollen Raum für die lyrische Entfaltung, den er auf raffinierteste Weise orchestral auratisiert, und lässt es in den Zuspitzungen auf umso dramatischer wirkende Konfrontationen hinauslaufen. Zugute kommt dem Werk, dass Francesco D’Orazio ein phänomenaler Solist ist, der offenkundig nicht nur alle Wünsche des Komponisten ideal verwirklicht, sondern diese Musik mit einer seltenen Strahlkraft, Geschmeidigkeit und Intelligenz ganz so spielt, als wäre sie schon immer da gewesen.
Lichtverwebungen und dunkles Glühen
Und wenn der ganze Zauber, der in höchst organisch verwoben wirkender, trotz minutiöser Notation durchweg improvisatorisch spontan anmutender Weise an uns vorüberzieht, vorüber ist, dann transportiert uns das zweite Werk doch noch in den Kosmos der elektronischen Möglichkeiten, also in den Raum hinter dem – klanglichen – Paradigmenwechsel: Die Chaconne für fünfsaitige (!) elektrische Geige und Elektronik, entstanden 2019-20, gliedert sich in zwei Sätze. Der erste, Woven Lights, ist von herrlicher melodischer Entfaltungsfreude geprägt, eine Musik fortwährender Befreiung hin zum Licht, wo die Violine mit Sampled Sounds und elektronischen Sounds teils sehr dramatisch interagiert (die elektronischen Sounds hat Francesco Abbrescia erstellt); der zweite, The Glows in the Dark, lässt den Geiger mit 30 (!) vorher von ihm erstellten Tonbändern in Wettstreit treten und betritt damit zielstrebig Grenzbereiche des Musizierens, wie sie heute von den einschlägigen Stiftungen und Gremien so gerne propagiert und oftmals in sehr dilettantischen Realisationen gefördert werden. Palumbo erfüllt auch diese Aufgabe in handwerklich vollendeter, durchaus inspirierter Weise, wenngleich für mich die Dark Glows dann doch eher wie ein Kommentar, ein Postludium zur wunderbar poetischen Welt der Woven Lights darstellen.
Einer der Besten heute
Geboren 1972, lebt Vito Palumbo heute in der Nähe von Bari. Er studierte bei Azio Corghi und wurde von Luciano Berio gefördert. Ästhetische Echos insbesondere von Corghi sind vernehmbar, doch hat Palumbo längst seinen ganz persönlichen Ausdruck gefunden, und er repräsentiert eine kompositorische Qualität, wie sie beispielsweise in Deutschland in seiner Generation bei niemandem zu sehen ist – unter den Arrivierteren zumindest… Die freie, musikalisch flexible, da alles andere als statische Handhabung spektraler Satztechnik lässt ihn auch die französische Schule überragen. Außergewöhnlich ist der helle, einem vollkommen unkitschigen Schönheitsideal huldigende Ausdruck seiner Persönlichkeit. Eine solch facettenreich schillernde Poesie und bewegliche Tiefe der Aussage habe ich seit dem großen unterschätzten Giorgio Federico Ghedini von keinem italienischen Komponisten vernommen, und es bleibt nur nachdrücklich zu empfehlen, dass Palumbos Musik auch hier öfter zu hören sein wird.
Die Aufführungen und die klangliche Abbildung sind exzellent, Gianni Morelenbaum Gualbertos Booklettext besticht mit kompakter Intelligenz und treffsicherer Charakterisierung.
Christoph Schlüren [06.07.2023]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Vito Palumbo | ||
1 | Violinkonzert | 00:30:45 |
2 | Chaconne für elektrische Violine und Electronics | 00:26:42 |
Interpreten der Einspielung
- Francesco Orazio (Violine)
- London Symphony Orchestra (Orchester)
- Lee Reynolds (Dirigent)
- Francesco Abbrescia (Electronics)