Hugo Wolf
Orchesterlieder
cpo 555 380-2
1 CD • 60min • 2020
08.08.2022
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Benjamin Appl und Simon Gaudenz bereichern die Hugo-Wolf-Diskographie aufs erfreulichste. Zwölf Vertonungen Wolfs (Goethe, Mörike), dessen Liedschaffen nicht zuletzt durch genialische Klavierbegleitungen berühmt wurde, werden auf dieser CD orchestral ganz vortrefflich begleitet. Die Jenaer Philharmonie unter Simon Gaudenz überzeugt aber auch vollkommen stimmig in der dreiteiligen, gut 23minütigen Penthesilea nach Heinrich von Kleists Trauerspiel.
Wolfs Umsetzung der Penthesilea: Großer Wurf
In der Textvorlage, für die sich Wolf in seinen jungen zwanziger Jahren bis hin zur exaltierten Ausbrüchen begeistert hatte, hat Kleist die archaische Antike als Schauplatz für krasse Entfesselungen ambivalenter Triebe genutzt – die Deformation einer Liebe, welche ihre Erfüllung nurmehr in sadistischer Erniedrigung zu finden vermag. Wolf komponiert seine Penthesilea, nachdem er in Wien von Liszt empfangen (und nach Vortrag einiger seiner frühen Lieder auf die Stirn geküsst) worden war; Liszt riet ihm, sich in größeren Formen zu versuchen.
Im Jahr nach dem Tod des Komponisten wird Wolfs orchestraler Geniestreich 1904 von Max Reger als „eine der bedeutendsten, lebenskräftigsten Schöpfungen“ der „letzten Jahrzehnte“ gepriesen: „Themen von genialer Prägnanz“, „Schlag auf Schlag … braust das wundervolle Tongedicht vorüber … Hätte Wolf nur dieses eine Werk geschrieben, die Kunstgeschichte müsste ihn in die erste Reihe aller Tondichter stellen“!
In der Jenaer Aufnahme unter Gaudenz erleben wir also mal symphonische, mal an Oper und Musikdrama gemahnende Stimmungen, emotional angespannte Emotionalität neben orchestral singender Lyrik. All dies lässt Wolfs Orchesterstil Generationen post mortem eigentlich auch für Filmmusik prädestiniert erscheinen. Dabei erinnert die ganz und gar beachtenswerte Instrumentationskunst des Komponisten gelegentlich an Wagner; Wagnerianer war Wolf im Alter von fünfzehn Jahren gewesen, 1882 hörte er in Bayreuth dessen Parsifal, doch er wollte bekanntlich kein Epigone des „alten Zauberers“ werden. Gott sei Dank, denn Wolf findet zu seinem einzigartigen Liedstil.
Klangmagie im Piano
Die Jenaer Philharmonie erweist sich vor allem auch in den Liedern nach Mörike (mit dessen Vertonungen Wolf kompositorisch zu sich selbst gefunden hat) und den Goethevertonungen als ganz ausgezeichnetes Ensemble, spielt voll schönster Subtilität in Artikulation, Dynamik und sinnlich reflektierter Räumlichkeit. Alle Beteiligten agieren geradezu magisch lauschend in den leisen Partien, von allem Anfang an (Schlafendes Jesuskind)! Der polyphon kundige Klangsinn der Orchestermusiker beglückt; minimale Abstriche wären vielleicht sehr selten bei der Synchronizität zwischen Streichern und Bläsern und innerhalb dieser zu machen.
Die atemberaubende Kultur des Sängers
Nach knapp einer halben Minute Instrumentalvorspiel setzt die Gesangsstimme ein, raffiniert gestaltend wie vor über einem halben Jahrhundert etwa Fischer-Dieskau, nur ohne die Manierismen und Übertreibungen des späten Meisters.
Dass Benjamin Appl im Gramophone als „Spitzenreiter der neuen Generation der Liedsänger“ bezeichnet wurde, wird evident schon angesichts der ungekünstelten Natürlichkeit seiner Stimme, die nicht zuletzt durch ideale, vorbildliche Wortverständlichkeit überzeugt, ohne dass irgend etwas als überartikuliert oder übertrieben stört. So kann man sich der Musik uneingeschränkt öffnen, muss sich beim Hören nicht in Acht nehmen oder schützen vor klanglichen Querschlägern.
Im United Kingdom (wo mehr Lied-Rezeption stattfindet als in BRD!) haben schon Appls CD „Heimat“ (Sony Classical) ebenso wie eine frühere Schubertplatte den Status „Editor’s Choice“ erreicht. Auch in Deutschland ist bekannt, dass Appls lyrische und feine Stimme gerade auch in den hohen Lagen unverzerrt bleibt; ohne Drücken realisiert sich immer wieder eine weite Offenheit, wie man sie im späten 20. Jahrhundert bisweilen vermisst hat. Auch das Vibrato in Appls melodischer Gestaltungskunst erscheint emotional intelligent eingesetzt, jenseits von Schema und Klischee. Ich muss in dieser Liedkunst nichts „zurechthören“ oder innerlich korrigieren.
Eckart van den Hoogens ausführliche Hinweise im Booklet bilden einen mehr als gediegenen Rahmen, schenken dem erkennenden Musikverständnis Perspektiven. Der Autor informiert aus überlegener Erfahrung und bisweilen souverän mit Augenzwinkern. Eine Zusammenfassung der klugen Kommentierung wäre nicht möglich; dass drei der eingespielten Liedorchestrationen nicht von Hugo Wolf, sondern Max Reger, einem Unbekannten sowie dem Musikologen Carl Stueber stammen, sei hier immerhin mitgeteilt. Auch andere cpo-Editionen erschienen durch van den Hoogens Kommentare bereichert; zu Komponisten wie Max Bruch, Heinrich Kaminski, Hans Rott, Franz Schmidt u.v.a. wird Erhellendes mitgeteilt.
Dr. Matthias Thiemel [08.08.2022]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Hugo Wolf | ||
1 | Schlafendes Jesukind (Sohn der Jungfrau, Himmelskind) | 00:03:16 |
2 | Epiphanias | 00:04:07 |
3 | Anakreons Grab | 00:02:45 |
4 | Denk' es, o Seele | 00:02:34 |
5 | Prometheus | 00:05:31 |
6 | An den Schlaf (1888) | 00:02:34 |
7 | Harfenspieler I | 00:03:19 |
8 | Harfenspieler II | 00:02:17 |
9 | Harfenspieler III | 00:02:15 |
10 | Sterb' ich, so hüllt in Blumen meine Glieder | 00:02:16 |
11 | Gebet | 00:02:32 |
12 | Fußreise | 00:02:36 |
13 | Penthesilea (Sinfonische Dichtung nach Heinrich von Kleist) | 00:23:28 |
Interpreten der Einspielung
- Benjamin Appl (Bariton)
- Jenaer Philharmonie (Orchester)
- Simon Gaudenz (Dirigent)