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Besprechung CD/SACD stereo/surround

Ciaccona

Bach • Gerhard • Holliger • Pauset

BIS 2525

1 CD/SACD stereo/surround • 85min • 2020

03.09.2021

Künstlerische Qualität:
Künstlerische Qualität: 9
Klangqualität:
Klangqualität: 10
Gesamteindruck:
Gesamteindruck: 9

Den russischen Geiger Ilya Gringolts hat der Rezensent live bislang nur mit zeitgenössischen Werken gehört, und fand dies wirklich jedes Mal derart faszinierend, dass er ihn mittlerweile zu den bedeutendsten Vertretern seines Fachs überhaupt rechnet. Natürlich hat Gringolts schon im jugendlichen Alter internationale Preise erspielt, studierte dann u.a. drei Jahre bei Itzhak Perlman. Auffallend ist jedoch, dass Gringolts auch mit unbekannterem Repertoire und „Neuer Musik“ zu reüssieren versteht, auf CD mit einer Einspielung von Locatelli-Violinkonzerten sein Interesse für historische Aufführungspraxis demonstriert hat. Und als Kammermusiker, etwa als Primarius seines Streichquartetts, kann er ebenso glänzen. Beim Titel der neuen Solo-CD Ciaccona denkt man natürlich sofort an Bachs berühmten Satz aus der 2. Violinpartita – der tatsächlich am Schluss der CD steht. Trotzdem ist das Album in erster Linie moderner Musik gewidmet, die freilich Bezüge zu den Bach-Partiten aufweist.

Großartige Chaconne des unterschätzten Roberto Gerhard

Roberto Gerhard (1896-1970), Katalane mit schweizerisch-elsässischer Abstammung, studierte in Wien und Berlin bei Arnold Schönberg. Der Großteil seiner in Deutschland leider immer noch viel zu wenig beachteten Musik ist daher stark durch die Zweite Wiener Schule geprägt, aber Gerhard fand sehr schnell zu einer ganz eigenen Handhabung der Reihentechnik. Infolge des spanischen Bürgerkriegs zog er nach England und verbrachte fast seine zweite Lebenshälfte in Cambridge; er komponierte Werke aller Gattungen. Seine großformatige, zwölfteilige wie zwölftönige Chaconne für Violine solo von 1959 macht vom ersten Takt an klar, um welch genialen Geistesblitz es sich dabei handelt. An Bach wie auch an die Schönberg-Schule anknüpfend, sprüht das Werk nur so von Ausdruckswillen, mehr oder weniger direkten Anspielungen gerade an Wiener Musik. Technisch und musikalisch vollbringt Gringolts hier Staunenswertes im Konzentrat: Gerhards Stück ist klar Höhepunkt der Platte und gehört unbedingt ins geigerische Repertoire!

Noch neuere Musik von Holliger und Pauset

Heinz Holliger (geb. 1939) gilt zu Recht als einer der besten Oboisten weltweit; seine eigentliche Berufung war hingegen immer das Komponieren – lange galt er dabei als echter Avantgardist. Die Drei kleinen Szenen (2014) spannen einen geographisch großen Bogen: Ciacconina greift eine ungarische Tradition auf, zur Violine zu singen (hierbei überzeugt Gringolts allerdings weniger), Geisterklopfen ist ein hoffmanneskes Schattenspiel, die Musette funèbre orientiert sich am armenischen Duduk mit komplexer Mikrotonalität; alles ein wenig düster. Die Kontrapartita (2008) des französischen Komponisten Brice Pauset (Jahrgang 1965) folgt ganz konkret sieben Sätzen aus Bachs Violinpartiten als Inspirationsquelle. Die meist recht verschleierten Bezüge wird der Hörer aber sogar nach mehrmaligem Hören kaum bemerken; Pauset wollte ja auch keine Neukompositionen bestehender Musik schaffen. Ob es eine gute Idee von Gringolts ist, die Sätze Pausets den Vorbildern jeweils direkt – für beides nimmt er hier eine Barockvioline – gegenüberzustellen, mag der Hörer selbst entscheiden. Das Ganze wird so jedenfalls mit 56 Minuten eindeutig zu lang! Und die allzu vertraute Musik Bachs nivelliert zwangsläufig Pausets durchaus wirkungsvolle musikalische Ideen, was schade ist. Mein Rat: Zunächst mal den CD-Player nur mit Pausets Stücken programmieren.

Sehr diskussionsfähige Bach-Interpretationen

Wie klingt nun Gringolts Bach? Antwort: Vieles bewusst ungewohnt, um nicht zu sagen „gegen den Strich“. So nimmt er durchwegs rasante, teilweise gar überhastete Tempi; seine dem „inegalen“ Spiel von Barockmusik auf dem Cembalo vergleichbare Agogik vermeidet zwar Gleichförmigkeit – Wiederholungen klingen immer ganz anders –, wirkt stellenweise jedoch manieriert. Die berühmte d-Moll-Chaconne aus BWV 1004 beginnt und endet ganz leise – völlig entgegen „romantischer“ Tradition. Dies ist beim genauen Hinhören inniger, intimer, persönlicher als die üblich große Bühnengeste; gefallen dürfte dies aber sicher nicht jedem. Gringolts Bach provoziert geradezu Diskussionen und unterscheidet sich mutig selbst von Darbietungen vieler gleichaltriger Interpreten. Fazit: Ein grandioser Gerhard sowie zwei weitere interessante Werke für Violine solo von hoher Qualität plus kontroverse Bach-Schnipsel – 85 Minuten virtuose Hochspannung; Tontechnik und Booklet sind BIS-üblich hervorragend.

Martin Blaumeiser [03.09.2021]

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Komponisten und Werke der Einspielung

Tr.Komponist/Werkhh:mm:ss
CD/SACD 1
Heinz Holliger
1Drei kleine Szenen 00:10:58
Roberto Gerhard
4Chaconne 00:17:10
Brice Pauset
16Kontrapartita, I. Preludio 00:01:22
Johann Sebastian Bach
17Partita Nr. 3 E-Dur BWV 1006, Preludio 00:03:28
Brice Pauset
18Kontrapartita, II. Allemanda 00:04:48
Johann Sebastian Bach
19Partita Nr. 1 h-Moll BWV 1002, Allemande 00:03:10
Brice Pauset
20Kontrapartita, III. Corrente 00:02:00
Johann Sebastian Bach
21Partita Nr. 1 h-Moll BWV 1002, Allemande 00:01:48
Brice Pauset
22Kontrapartita, IV. Sarabande 00:03:50
Johann Sebastian Bach
23Partita Nr. 1 h-Moll BWV 1002, Sarabande 00:02:22
24Partita Nr. 3 E-Dur BWV 1006, Loure 00:02:23
Brice Pauset
25Kontrapartita, V. Loure 00:03:35
26Kontrapartita, VI. Giga 00:04:04
Johann Sebastian Bach
27Partita Nr. 2 d-Moll BWV 1004, Giga 00:02:05
Brice Pauset
28Kontrapartita, VII. Ciaccona 00:09:20
Johann Sebastian Bach
29Partita Nr. 2 d-Moll BWV 1004, Ciaccona 00:12:03

Interpreten der Einspielung

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