Modern Times
Lieder
CAvi-music 8553229
1 CD • 66min • 2011
03.05.2019
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Dieses Recital ist das Ergebnis einer längerfristigen Beschäftigung des Baritons Christian Immler mit Liedern emigrierter jüdischer Komponisten, die überwiegend aus Österreich kamen und im fin-de-siècle, aber auch noch nach dem 1. Weltkrieg bis in die 30er Jahre im dortigen Musikleben eine wichtige Rolle spielten. Der führende Kopf dieser Gruppe, Arnold Schönberg, fehlt allerdings in der vorliegenden Auswahl, die dafür Entdeckungen über Entdeckungen bietet und ein vielfarbiges Kaleidoskop musikalischer Stile darstellt. Ausnahmslos alle Lieder haben es verdient, wieder ans Licht gebracht zu werden. Es handelt sich um hochkarätige Musik zu hochkarätigen Texten.
Der Sänger selbst spricht von einer „Gratwanderung zwischen Nostalgie und Moderne“, wobei auch die Avantgarde des beginnenden 20. Jahrhunderts beim heutigen Hörer nostalgische Gefühle hervorruft. Franz Schreker und Alexander von Zemlinsky sind mit ihren Bühnenwerken mittlerweile ins Repertoire zurückgekehrt, ihr Liedschaffen nimmt sich daneben eher marginal aus. Der Traditionalist Berthold Goldschmidt (1903-1996) hatte das Glück, alt genug zu werden, um seine Wiederentdeckung noch erleben zu können. Dagegen wird Hans Gál (1890-1987), ein später Romantiker mit eigener Handschrift, erst seit ein paar Jahren wieder zur Kenntnis genommen. Seine Fünf Melodien op. 33 gehören für mich zu den herausragenden Fundstücken dieser Sammlung.
Zwei davon sind Dichtungen von Christian Morgenstern gewidmet. Da drängt sich ein Vergleich mit Goldschmidt auf, der ebenfalls zwei lyrische Texte dieses Autors vertont hat. Den anarchisch-witzigen Morgenstern der Galgenlieder hat Hanns Eisler (1898-1962) im Kriegslazarett für sich entdeckt und kongenial in Klänge gesetzt. Erst später fand der Schönberg-Schüler seinen Weg zu politischer Agitation, etwa in den 1932 veröffentlichten Balladen von der Krüppelgarde und vom Nigger Jim. Die Texte klingen nach Brecht, stammen aber von Robert Gilbert; mit Schlagertiteln wie Oh mein Papa und Das ist die Liebe der Matrosen bekannt geworden, war er damals ein überzeugter Sozialist, der unter dem Pseudonym David Weber gemeinsam mit Eisler „Arbeiterkampflieder“ schrieb.
Im amerikanischen Exil wurde Eisler dann auch im Genre der Filmmusik erfolgreich, in dem zuvor schon sein Landsmann Erich Wolfgang Korngold (1897-1957) nicht nur sein Auskommen, sondern sogar seine eigentliche Berufung gefunden hatte. Den spätromantischen Stil seiner frühen Opern hinter sich lassend, blieb Korngold doch zeitlebens der Tonalität und der Kantilene verpflichtet. Seine 1937 entstandenen Lieder des Narren aus Shakespeares Twelfth Night („Was ihr wollt“) zeigen Einfühlung in die dichterischen Vorlagen und im letzten Lied For the rain auch einigen Witz. Den finden wir in reichem Maße in den kabarettnahen Bänkel und Balladen (1931) von Wilhelm Grosz (1894-1939). Er ist nicht mit dem Maler George Grosz verwandt, hat aber einen ähnlichen Blick wie dieser auf die Menschen und die Gesellschaft seiner Zeit. Der zeigt sich in aller Schärfe in der Ringelnatz-Ballade vom Seemann Kuddel Daddeldu und drei Gesängen auf Texte von Carola Sokol.
Christian Immler und sein Klavierpartner Helmut Deutsch sind berufene Führer durch den bunten Kosmos dieser Liedliteratur. Der Sänger zeigt dabei eine ungewöhnliche gestalterische Bandbreite, ist nach Bedarf lyrisch-innig, kontemplativ, expressiv, aggressiv, witzig, sarkastisch. Auch der Pianist ist ein Meister aller Klassen, kein Begleiter, sondern eloquenter Dialogpartner. Die Klangbalance zwischen Stimme und Instrument könnte bei den ruhigeren Gesängen etwas ausgewogener sein.
Ekkehard Pluta [03.05.2019]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
0 | ||
Franz Schreker | ||
1 | Das feurige Männlein op. 7 No. 4 | 00:01:29 |
2 | Und wie mag die Liebe | 00:01:31 |
Hans Gál | ||
3 | Vergängliches op. 33 Nr. 1 | 00:02:12 |
4 | Der Wiesenbach op. 33 Nr. 2 | 00:01:33 |
5 | Vöglein Schwermut op. 33 Nr. 3 | 00:03:38 |
6 | Drei Prinzessinnen op. 33 Nr. 4 | 00:02:49 |
7 | Abend auf dem Fluss op. 33 Nr. 5 | 00:02:10 |
Berthold Goldschmidt | ||
8 | Ein Rosenzweig op. 27 Nr. 1 | 00:01:06 |
9 | Nebelweben op. 27 Nr. 2 | 00:02:00 |
Hanns Eisler | ||
10 | Philantropisch | 00:02:42 |
11 | Die zwei Trichter | 00:00:43 |
12 | Die zwei Wurzeln | 00:02:21 |
Erich Wolfgang Korngold | ||
13 | Come away, death op. 29 No. 1 (from: Songs of the Clown op. 29) | 00:01:48 |
14 | O Mistress Mine op. 29 No. 2 (from: Songs of the Clown op. 29) | 00:02:05 |
15 | Adieu Good Man Devil op. 29 No. 3 (from: Songs of the Clown op. 29) | 00:00:53 |
16 | Hey, Robin op. 29 No. 4 (from: Songs of the Clown op. 29) | 00:00:49 |
17 | For the Rain, it Raineth Every Day op. 29 No. 5 (from: Songs of the Clown op. 29) | 00:03:17 |
Alexander Zemlinsky | ||
18 | Der Wind des Herbstes op. 27 Nr. 6 | 00:01:15 |
19 | Gib ein Lied mir wieder op. 27 Nr. 10 | 00:02:05 |
20 | Regenzeit op. 27 Nr. 11 | 00:00:55 |
21 | Afrikanischer Tanz op. 27 Nr. 9 | 00:01:01 |
Hanns Eisler | ||
22 | Ballade von der Krüppelgarde op. 18 Nr. 1 (aus: Balladenbuch op. 18) | 00:03:56 |
23 | Ballade vom Nigger Jim op. 18 Nr. 6 (aus: Balladenbuch op. 18) | 00:04:14 |
Wilhelm Grosz | ||
24 | Bänkel vom Business op. 31 Nr. 1 (aus: Bänkel und Balladen op. 31) | 00:03:16 |
25 | Ballade vom Seemann Kuttel Daddeldu op. 31 Nr. 2 (aus: Bänkel und Balladen op. 31) | 00:06:21 |
26 | Bänkel vom Klatsch op. 31 Nr. 3 (aus: Bänkel und Balladen op. 31) | 00:04:17 |
27 | Ballade vom Sammy Lee op. 31 Nr. 4 (aus: Bänkel und Balladen op. 31) | 00:05:06 |
Interpreten der Einspielung
- Christian Immler (Bariton)
- Helmut Deutsch (Klavier)