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Besprechung CD

Erkki-Sven Tüür

Peregrinus Ecstaticus • Noēsis • Lepoids des vies nonvécues

Ondine ODE 1287-2

1 CD • 58min • 2015, 2016

24.02.2017

Künstlerische Qualität:
Künstlerische Qualität: 9
Klangqualität:
Klangqualität: 10
Gesamteindruck:
Gesamteindruck: 9

Der estnische Komponist Erkki-Sven Tüür (*1959) ist nun schon seit bald drei Jahrzehnten gewissermaßen das Aushängeschild einer estnischen Musikergeneration, die zwar noch unter sowjetischer Herrschaft aufwuchs, sich aber bereits vor der Unabhängigkeit der baltischen Staaten künstlerisch eigenständige Wege jenseits des sozialistischen Realismus bahnte. Im Falle Tüürs ist dies freilich nicht der Rückgriff auf nationales Liedgut, sondern eine Reaktion auf die ganze Breite musikalischer Phänomene unserer Zeit, die, angefangen bei der Dodekaphonie, allgemein symphonischer Tradition westlicher Prägung, über Progressive Rock, eine ganz eigene – von seinem großartigen Lehrer Lepo Sumera entwickelte - estnische Interpretation der „minimal music“ bis hin zu neuen, konstruktivistischen Methoden reicht, die wiederum als klare Abgrenzung zum der musikalischen Postmoderne gern gemachten Vorwurf des „anything goes“ gelten dürfen. So verwundert es kaum, dass Tüür seine Werke, die schon immer nicht nur auf ein Spannungsfeld zwischen altbekannten, musikalischen Phänomenen, sondern auch auf jenes zwischen unterschiedlichen „Stilen“ setzten, nicht sozusagen „zwischen allen Stühlen“ verortet sehen mochte, sondern seit etwa 2003 konsequent eine spezifische, sogenannte „vektorielle Methode“ der Komposition verwendet, die seine – freilich schon vorher unverkennbare – Klangwelt bis ins Detail organisiert und legitimiert.

Das Klarinettenkonzert Peregrinus Ecstaticus von 2012 ist ein Beispiel für diese Technik. Zwei alternierende Pole – jeweils bereits dialektisch zwischen Solist und Orchester aufgeteiltes unterschiedliches Material – stellen äußere bzw. innere Aspekte einer Pilgerfahrt dar, die bei ihrer Wiederkehr gewissermaßen auf eine höhere Ebene transzendieren sollen und im Ganzen eine große, dreisätzige Form modellieren. Das Stück stellt höchste Ansprüche an den Solisten, insbesondere an Atemtechnik und saubere Intonation von Mikrointervallen. Leider klingen einige Stellen etwas nervig; besonders dort, wo die Klarinette auf- und abwärtssteigende Glissandi produziert, die allzu leicht mit Sirenengeheul von Einsatzfahrzeugen assoziiert werden könnten, was kaum der Intention des Komponisten entsprechen dürfte. Ein Werk, das sicher mehrmaligen Anhörens bedarf, um in seinem Kern fasslich zu erscheinen.

Das Doppelkonzert für Violine und Klarinette Noesis (2005) gehört inzwischen zu den häufiger aufgeführten Werken Tüürs. Nach einem geradezu unheimlichen Beginn im Orchester repräsentieren entgegengesetzte Bewegungsverläufe in den beiden Soloinstrumenten unterschiedliche Herangehensweisen zur Erkenntnis, etwa die induktive bzw. deduktive. Auch hier wird manches Material durch zunächst fast unmerkliche Variation bis fast zum Überdruss ausgekostet, bevor es so „richtig“ weitergeht. Dennoch erfüllt Noesis wesentlich leichter traditionelle Hörerwartungen an ein dreisätziges Konzert.

Als eigentlicher Höhepunkt der CD erweist sich dann aber doch das wesentlich einfacher gestrickte, knapp 12-minütige Orchesterstück Le poids de vies non vécues aus dem Jahre 2014. Dieses ist eine äußerst klar aufgebaute, sich in seiner Emotionalität direkt mitteilende Trauermusik, die an die allerbesten Werke dieser Gattung heranreicht – etwa Martinůs Mahnmal für Lidice. Der Lamento-Charakter wird zunächst vordergründig vor allem durch die Streicher etabliert, was alter Tradition entspricht; im Verlauf steigert sich das Werk über den meisterhaft eingesetzten gesamten Orchesterapparat. Hier zeigt sich Erkki-Sven Tüür als Instrumentator von Weltrang. Das gilt natürlich auch für die beiden Konzerte, jedoch erschließt sich das dem Hörer erst, wenn er dieser Musik bis ins Detail zu folgen bereit ist.

Unabhängig von der Beurteilung der einzelnen, hier vorgestellten Kompositionen, erfreut die CD mit einer lupenreinen Realisierung dieser Partituren. Die beiden Solisten (Christoffer Sundqvist, Klarinette und Pekka Kuusisto, Violine) beherrschen diese Musik wie selbstverständlich und sind in der Lage, neben unglaublicher Klangschönheit an manchen Stellen auch Schroffheiten mutig herauszuarbeiten. Im Doppelkonzert agieren sie mit perfektem Zusammenspiel fast wie ein einziger Organismus. Das Finnische Rundfunk-Sinfonieorchester unter Hannu Lintu begleitet nicht nur ebenso detailbesessen, sondern erschafft überzeugend den sich oft wellenartig entwickelnden Klangteppich, über dem sich die Solisten erst richtig entfalten können. Man beachte nur die Makellosigkeit der Schlussklänge des Klarinettenkonzerts in höchster Lage!

Auch aufnahmetechnisch verdient diese CD höchstes Lob. Gerade der Vergleich mit der Einspielung von Noesis auf ECM zeigt, dass sich die Beteiligten hier vor allem absolute Durchsichtigkeit zum Ziel gesetzt haben mögen, was beeindruckend gelingt – auch wegen des sorgfältiger präparierten Orchesters. Wirkt der Gesamtklang bei ECM vielleicht „atmosphärischer“, so bevorzuge ich bei dieser Musik dann doch den Detailreichtum und die Präzision der vorliegenden Darbietung – lediglich die Abmischung der Solisten ist für meinen Geschmack ein wenig zu sehr im Vordergrund.

Für bereits eingefleischte Fans der Musik Erkki-Sven Tüürs ist diese Produktion ein Muss – für Neugierige erweist sich das zentrale Lamento“ vielleicht als Türöffner zu dieser durchaus eigenwilligen Klangwelt. Booklet-Texte gibt es nur in Englisch und Finnisch.

Vergleichseinspielung Noesis: Carolin & Jörg Widmann, Nordic Symphony Orchestra, Anu Tali (ECM New Series 2040, 2010)

Martin Blaumeiser [24.02.2017]

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Komponisten und Werke der Einspielung

Tr.Komponist/Werkhh:mm:ss
CD/SACD 1
Erkki-Sven Tüür
1Klarinettenkonzert (Peregrinus Ecstaticus) 00:25:03
4Les poids des vies non vécues 00:11:41
5Konzert für Violine, Klarinette und Orchester (Noēsis) 00:20:37

Interpreten der Einspielung

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