Dmitri Shostakovich
Ondine ODE 1235-2
1 CD • 62min • 2013
13.05.2014
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Unter den vielen Konkurrenzlosigkeiten, mit denen die Branche heutigentags gute Startpositionen erobern will, darf diese Veröffentlichung einen ordentlichen Platz im vorderen Feld beanspruchen. Und das trotz ihrer kargen editorischen Ausstattung: Das Booklet beschränkt sich auf die englische Übersetzung des finnischen Einführungstextes, der nur die nötigsten Informationen über die Entstehung der Werke mitteilt, sowie auf einen persönlichen Kommentar des Sängers. Die Gedichte von Raleigh, Burns, Shakespeare und Michelangelo sind in ihrer Originalsprache und im Falle des letztgenannten Poeten wieder auf Englisch abgedruckt.
Hier endet aber auch schon die Kritik der reinen Sparsamkeit. Denn alles, was die potentielle Hörerschaft an musikalischen Ereignissen erwartet, verdient fast ausnahmslos hohe Anerkennung, und das desto mehr, als der Einfall, statt der von Schostakowitsch benutzten russischen Übertragungen bei der Aufnahme die englischen, schottischen und italienischen Dichtungen zu verwenden, auf sehr erfreuliche Weise realisiert wurde. Beiden Zyklen werden dadurch einige Facetten eingeschliffen, dank derer die zeitlose Größe der Musik und ihre rätselhafte Vielschichtigkeit plastisch hervortreten.
Dabei kommt es besonders in den ganz späten Michelangelo-Liedern zu staunenswerten chemischen Reaktionen: Wenn sich die südländische Poesie etwa der Mattina (Nr. 2) in die atmosphärisch-aufgelösten Höhen kaum mehr greifbarer Luftschichten erhebt oder der Distacco (Nr. 4) der bohrenden Frage nachgeht, ob der Verlassene den Mut hat, alleine weiterzuleben, und das Exil (Nr. 7) mit seinen grandiosen orchestralen Zwischenspielen eine völlige Isolation umreißt – dann haben wir die Regionen vordergründiger Semantik längst verlassen. Und wenn in dem immensen schöpferischen Ausbruch der Creatività (Nr. 8) der “derbe Hammer den harten Stein in menschliche Formen zwingt”, dann prallen Schostakowitsch und Michelangelo derart wuchtig aufeinander, als wollten sie durch ihren schmetternden Konflikt ein Standbild des Benvenuto Cellini gießen. Was den Komponisten freilich bewogen haben mag, die Immortalità ans Ende zu setzen, wo er doch stets betonte, daß mit dem Tode alles vorüber sei ... ?
Gerald Finley und die Philharmoniker aus Helsinki unter Thomas Sanderling ziehen in ihren Bemühungen um diesen endgültigen Zyklus derart überzeugend an einem Strang, daß sich beim Hören ungeahnte Assoziationen einstellen und man bereitwillig über die kleinen Momente hinweggeht, in denen die Stimme des Kanadiers ein wenig zu werden droht: Seine lyrischen und deklamatorischen Fähigkeiten kompensieren diese kurzen Eintrübungen jedoch mit Leichtigkeit – vor allem, wenn bei den englischen Romanzen op. 62 der sprachliche Heimvorteil ins Spiel kommt, den Finley um so dankbarer ausnutzt, als die ursprüngliche, lange verschollen geglaubte Instrumentierung aus dem Entstehungsjahr (1943) ganz andere Herausforderungen bietet als die 1971 unter der Opuszahl 140 eingerichtete Version für Kammerorchester. Von dem triumphierenden Durchsetzungsvermögen profitieren Macpherson’s Farewell (Nr. 3), das später fast wörtlich in den zweiten Satz der dreizehnten Symphonie einfloß, und der aphoristische Schluß vom französischen König, der mit zwanzigtausend Mann den Hügel emporzog und nach seiner Niederlage das nie wieder versuchte. Die Tragik der Worte und Töne, mit denen Walter Raleigh sich von seinem Sohn verabschiedete, und die abgrundtief schwarze Todessehnsucht des 66. Shakespeare-Sonetts hingegen überzeugen erneut durch die nuancierte Gestaltungsfähigkeit sowohl des Solisten als auch des Dirigenten, der mit seinem Orchester jene fortwährende “Unausweichlichkeit” erzeugt, die sich in Schostakowitschs besten Werken stets als selbständige, unterirdisch aktive Schicht bemerkbar macht. Kurzum: Das Experiment ist gelungen.
Rasmus van Rijn [13.05.2014]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Dimitri Schostakowitsch | ||
1 | Sechs Romanzen op. 62a (nach Versen von W. Raleigh, R. Burns und W. Shakespeare) | 00:14:59 |
7 | Annie Laurie (Schottische Ballade) | 00:03:08 |
8 | Suite on Poems by Michelangelo Buonarroti op. 145a | 00:43:34 |
Interpreten der Einspielung
- Gerald Finley (Bassbariton)
- Helsinki Philharmonic Orchestra (Orchester)
- Thomas Sanderling (Dirigent)