Brett Dean
BIS 2016
1 CD/SACD stereo/surround • 1h 26min • 2011
11.12.2013
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Über ein vergleichbares Talent für Titel, wie es der australische Komponist Brett Dean (Jahrgang 1961) zeigt, verfügen nur wenige Kollegen seiner Generation. The Lost Art of Letter Writing heißt sein Violinkonzert von 2009, „Die verlorene Kunst, Briefe zu schreiben“. Vordergründig scheint sich das kurzweilige Werk, was auch der Beihefttext vermutet, mit den modernen elektronischen Kommunikationsformen auseinander zu setzen, welche zu einem Verfall zwischenmenschlicher Beziehungen führen, doch wird beim Hören eine weitaus allgemeinere und tiefere Bedeutung greifbar: Dean, der bis 1999 Mitglied der Bratschengruppe der Berliner Philharmoniker war und seither als weitgehend autodidaktisch gebildeter freier Tonsetzer lebt – und dies international sehr erfolgreich -, nimmt das Briefeschreiben als eine Metapher für ein bewußt altmodisches Komponieren.
Damit ist kein platter Neoklassizismus gemeint und auch kein naives und ignorantes Zurückgehen auf die Spätromantik. Bewußt altmodisch ist an Deans Komponieren, dass er einem musikalischen Ausdruck freie Bahn läßt, welcher sich mit einem reizvollen Hedonismus auf interessante, durchaus auch historische Phänomene bezieht und dann mit großer Phantasie entwickelt. Dass es dabei schwer fällt, auch nur eine der kompositorischen Entwicklungen zu benennen, die nach dem Konzert Alban Bergs aus der Mitte der 1930er Jahre in Deans Sprache reflektiert oder gar weitergedacht würden, wird diejenigen ärgern, die einem einseitigen Fortschritt huldigen, es also vielleicht gar nicht so schlecht finden, dass das Briefeschreiben ausgestorben ist. Dean scheint diese erwartbare Kritik nicht zu scheren, geradezu aufreizend holzschnittartig gehalten sind etwa die kontrapunktischen Strukturen im Kopfsatz des Violinkonzertes, überschrieben mit Hamburg, 1854; der Satz wird denn auch eingeleitet durch ein Brahms-Zitat, das den historischen Bezugspunkt offenlegt. Das, was man mit Adorno als historisch hoffnungslos verspätet bezeichnen kann, wird zum Stilprinzip des Komponierens.
Entgegengehalten werden kann den Kritikern, dass Dean ebenso geistreich wie lustvoll schreibt; die Kehrseite des Eklektizismus ist eben auch eine handwerkliche Sicherheit, die sich in Deans beachtlich gut ausgebildeten Sinn für sprachfähige Melodik und Harmonik und nicht zuletzt auch durchsichtige und einfallsreiche Instrumentation äußert. Gelangweilt wird der Hörer nie, es gibt zwar mitunter – etwa auch in Testament für zwölf Violen von 2002 -, eher statische und minimalistische Episoden, die man als rhythmisch-metrisch allzu gleichartig empfinden könnte, doch sind diese stets eingebunden in eine stabile Balance von komplexen versus simplen Strukturen. Frank Peter Zimmermann spielt das Werk mit der für ihn üblichen Perfektion, berückend schön und mit einem Ausdruck, der auch Brahms oder Berg würdig wäre; phantastisch etwa das feine Spiel in hoher Lage, das stets kristallklar bleibt, oder auch die massiven, doch nie aggressiven Passagen. Entsprechend gut ist die Begleitung durch die Sidney Symphony unter Jonathan Nott organisiert.
Deans lustvoller Eklektizismus ist freilich auch der Grund dafür, dass seine „soziologische Kantate“ Vexations and Devotions (wieder so ein Titel!) zwar auf hohem kompositorischem Niveau, aber doch konzeptionell scheitert. Denn Deans so offen traditionsbereiter Stil eignet sich gerade nicht für ein kritisches Komponieren, das die Hohlheiten moderner Kommunikation und Sprache reflektieren könnte. Was Dean also als entlarvend intendiert, verliert doch de facto seine Schärfe, weil Dean innerhalb seiner Sprache kein Gegenstück zum sinnlichen und konventionellen Hedonismus hat. So ist auch der Einsatz der Elektronik hier eher wenig komplex und erschöpft sich wesentlich in der bloßen Zitation automatischer Telefonbandansagen, die dann orchestral kommentiert werden. Dies ist die Begrenztheit von Deans Absage an die Avantgarde: dass er deren kritische, verfremdende, diffamierende Möglichkeiten dann eben auch nicht zur Verfügung hat. Der Hörer dieser höchst instruktiven Produktion kann also selbst entscheiden, ob es besser ist, wenn ein Komponist sich mutig für eine gewisse musikhistorische Haltung entscheidet, oder wenn er es auf sich nimmt, sich gegenüber der herrschenden Avantgarde mit all ihren Problemen zu verpflichten.
Prof. Michael B. Weiß [11.12.2013]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Brett Dean | ||
1 | Konzert für Violine und Orchester (The Lost Art of Letter Writing) | 00:33:41 |
5 | Testament für 12 Violas | 00:14:41 |
6 | Vexations and Devotions für Chor und Orchester | 00:36:53 |
Interpreten der Einspielung
- Frank Peter Zimmermann (Violine)
- Sydney Symphony Orchestra (Orchester)
- Jonathan Nott (Dirigent)
- BBC Scottish Symphony Orchestra (Orchester)
- Martyn Brabbins (Dirigent)
- BBC Symphony Chorus (Chor)
- BBC Scottish Symphony Orchestra (Orchester)
- Gondwana voices (Chor)
- David Robertson (Dirigent)