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Besprechung CD

Testament SBT3 1457

3 CD • 2h 55min • 1960, 1964

28.02.2011

Künstlerische Qualität:
Künstlerische Qualität: 10
Klangqualität:
Klangqualität: 5
Gesamteindruck:
Gesamteindruck: 9

Am 19. Dezember des Gustav-Mahler-Jahres 1960 strahlte das Dritte Programm der BBC einen echten Jahrhundert-Beitrag aus: Der britische Musikwissenschaftler Deryck Cooke (1919-1976) setzte dem Publikum im Saal und an den Rundfunkgeräten auseinander, was er inzwischen über die Fragmente der sagenumwobenen zehnten Sinfonie wußte, die Mahler bei seinem Tode 1911 in mehreren Mappen hinterlassen hatte. Teils am Klavier, teils assistiert vom Philharmonia Orchestra unter Leitung von Berthold Goldschmidt, präsentierte der fleißige Mann zunächst in einer gut halbstündigen Analyse die wesentlichsten thematischen Stationen des Entwurfs einschließlich einiger höchst instruktiver Hinweise auf die Eingriffe, die zur Spielbarmachung des überlieferten Materials nötig gewesen waren. Nach einer kurzen Pause folgte die „komplette“ Aufführung dessen, was sich damals überhaupt realisieren ließ: Goldschmidt dirigierte zunächst das Adagio, ehe nach Cookes Ansage die praktisch nutzbaren Abschnitte und der durchgehende Schlußsatz erklangen – letzterer durch die donnernden Schläge der Großen Trommel attacca mit Reprise und Coda des zweiten Scherzos verbunden.

Bekanntlich war Alma Mahler, darin heftig von Bruno Walter bestärkt, seit jeher eine flammende Hüterin des Geheimnisses gewesen. Außer dem weitestgehend ausgeführten Adagio hätte, wenn es einzig nach ihr gegangen wäre, nichts an die Öffentlichkeit – und schon gar nicht in eine wie auch immer geartete „praktische Versionì gelangen düürfen. So legte sie sich denn auch quer, als ihr Deryck Cookes Bemühungen gerüchteweise zu Ohren kamen: Nachdem sie ursprünglich ein Gesprächskonzert genehmigt hatte, machte sie einen unerklärlichen Rückzieher und verbat sich für alle Zeiten jeden Versuch, dieses Rätsel aller Rätsel lösen zu wollen. Bis sie, gewissermaßen überlistet durch den Dirigenten Harold Byrns, die klingenden Resultate in Form eines Tonbandmitschnitts hören konnte: Am 8. Mai 1963, rund anderthalb Jahre vor ihrem Tode, erklärte sie Cooke, daß sie „ein für allemalì die Erlaubnis erteile, diese „Zehnte“ aufzuführen.

Wenig später fanden sich unter Almas Papieren weitere 44 Skizzenblätter, die dem „Restaurator“ zur Verfügung gestellt wurden, und am 13. August 1964 dirigierte Berthold Goldschmidt in der Royal Albert Hall die erste vervollständigte Fassung. Dieses Mal spielte das London Symphony Orchestra, und wieder hielt die BBC das Ereignis fest.

Auf drei CDs ist die „Entdeckungsgeschichte“ jetzt bei dem britischen Label Testament zu haben. Damit ist ein Lehrstück zugänglich, das zu Gustav Mahlers 100. Todestag eigentlich „dumpf wie ein Axthieb“ in die Szene der Nekromanten einschlagen müßte – weil hier nämlich nicht nur das geheimnisumwitterte Sujet der Zehnten an sich, sondern darüber hinaus auf geradezu exemplarische Weise der richtige Umgang mit jedweder fragmentarischen Hinterlassenschaft großer Geister demonstriert wird. Gewiß, immer wieder haben wir gelesen, dass es Deryck Cooke um nichts als eine „performing version“ gegangen sei. So steht es auf der instruktiven Partitur, und so finden wirís mit schöner Regelmäßigkeit bei jeder kommerziellen Aufnahme nachgedruckt. Seltsam nur, dass ich von dem, was dann seit der ersten LP-Veröffentlichung mit Eugene Ormandy und dem Philadelphia Orchestra auf den Markt kam, immer eher enttäuscht als erhellt wurde, nicht anders als von irgendwelchen hochgestochenen, heiß debattierten Flickschustereien um Mozart, Schubert, Bruckner und Elgar, ganz zu schweigen von der absurd jämmerlichen Beschwörung einer zehnten Beethoven-Sinfonie. Es ist etwas ganz anderes, ob man lediglich ein paar Particell-Takte orchestrieren muß wie am Ende des dritten Klavierkonzerts von Béla Bartók, oder ob man diverse Körperteile miteinander vernäht, die dann von einer Frankensteinschen Elektrisiermaschine zu künstlichem Leben erweckt werden sollen: Der Blitz fährt hernieder, das Monster erhebt sich, tut ein paar Schritte und kollert wieder portionsweise in seine Grabstätten zurück.

Deryck Cooke ist, wie der originale BBC-Ton zeigt, dieser Gefahr von Anfang an aus dem Wege gegangen. Seine Worte sind frei von jeglicher Eitelkeit oder Eigenwichtigkeit, seine Klavierbeispiele sind so lehrreich wie unvirtuos. Da tritt kein „Heilandì“ der Zehnten auf und keiner, der „als einziger“ in der Lage wäre, die Gedanken des Komponisten zu begreifen. Auch gebärdet er sich nicht als „Rosemarie Browns Baby“, als Medium also, dessen Mund einer staunenden Gemeinschaft der Gläubigen jenseitige Wahrheiten diesseitig profitabel verhökert. Nicht einmal die erforderlichsten Zutaten wie etwa harmonische Ausfüllungen oder instrumentale Entscheidungen nähern sich den nebulösen Gegenden der „Erleuchtung“, sondern werden aus früheren Mahler-Partituren abgeleitet – immer und überall mit dem vordringlichen Ziel, klingen zu lassen, was in Mahler klang, nachdem er die abgrundtiefe Lebenskrise überwunden hatte und zuversichtlich neue Ufer ansteuerte. Denn dass es sich bei der geplanten zehnten Sinfonie nicht um den endgültigen Absturz gehandelt hätte, steht außer Frage, wenn wir die gesamte Konzeption verfolgen. Das gern als großes Postscriptum zur Neunten zelebrierte Adagio ist, wie Deryck Cooke richtig befand, ein weiträumiges Präludium, und Berthold Goldschmidt ist denn auch in beiden Aufführungen um einiges zügiger als das gewohnte „Abschieds-Fragment“. Da atmen die Ländler-Einschlüsse plötzlich weder nostalgische Resignation noch „luft von anderen planeten“, sondern verbreiten einen positiven Elan, der über die Scherzi und das Fegefeuer hinaus bis in die bloße Konzeption des Finales weiterwirkt, mit dem ich bisher immer meine liebe Not hatte. Dieser ellenlange, hohle, an Krücken sich dahinschleifende Schluß, der ganzen Veranstaltung nur verpaßt, damit das Kind einen Namen hat – auf einmal ist diese skizzenhafte Hypothese von jener Wärme, Liebe und Güte erfüllt, die mir schon immer als die größten Schaffenskräfte Mahlers galten, so verzweifelt und jähzornig, so unberechenbar und herrschsüchtig der Mann nach Außen auch gewirkt haben mag: Über allem breitet sich die Versöhnung mit der Welt und mit sich selbst aus. Ob dieses Finale jemals so geworden wäre, wie es uns als spielbare Lösung entgegentritt, ist dabei eine müßige Frage. Dass Mahler jedoch Formulierungen wie das schier unendliche (Flöten)-Thema zu Papier brachte, dass er zwischendurch einen leisen Blick auf Richard Strauss wirft (mit dem er, dem lange von Alma unterdrückten Briefwechsel zufolge, auch besser auskam als uns die einschlägige Zensur wollte glauben machen), dass er mit einem tiefen, befreit-befreienden Atemzug das Ende erreichte – das hat er authentisch festgehalten, bevor sein Körper vor einhundert Jahren den Dienst versagte.

Zum ersten Mal ergreift mich also diese nachbehandelte Skizze vom ersten bis zum letzten Moment. Warum? Weil Berthold Goldschmidt und Deryck Cooke weit, weit hinter alles zurücktreten, was man „Interpretation“ oder „Bedeutung“ nennen könnte. Der Strom der Gedanken trägt sich selbst, sucht sich sein Bett, und während er das tut, gibt er sich selbst die Form: Keiner drückt und drängt und zwängt die Musik, niemand hängt sich dran, um zu zeigen, was das doch alles „zu sagen“ hat. Und dabei ist nichts Passives im Musizieren der beiden Orchester, die – nicht nur gelegentlich in den Hörnern unverkennbar – noch völliges Notenneuland betraten. Siebzig Minuten dauert die „komplette“ Wiedergabe in der Royal Albert Hall, deren einzigartige Faszination weder Solo-Bronchisten und kollektive Pausenhuster noch chronisch leise Raumgeräusche beeinträchtigen können. Beeinträchtigt wird dadurch lediglich die Klang-Bewertung. Alles andere kommentierte das Publikum damals mit einem echt britischen Ausbruch der Begeisterung. Dem kann ich mich heute nur anschließen.

Rasmus van Rijn [28.02.2011]

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Komponisten und Werke der Einspielung

Tr.Komponist/Werkhh:mm:ss
CD/SACD 1
Gustav Mahler
1Sinfonie Nr. 10 Fis-Dur

Interpreten der Einspielung

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