Ondine ODE 11662
1 CD • 65min • 2009, 2010
02.11.2010
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Viel Redundantes war unter den kompositorischen Neuheiten zu finden, die uns das Land der 1000 Seen in jüngster Zeit präsentierte. Dabei wird man natürlich den großen alten Herren Sallinen und Rautavaara allein schon aufgrund ihrer Lebensleistung mit gebührendem Respekt begegnen und ihnen ihre schönen, mit weitem Pinselstrich ausgeführten Adagio-Sätze und Revisionen älterer Stücke niemals verargen. Demgegenüber hat mir Kalevi Aho zuletzt so manches „oha!“ abgenötigt, und mit den Modernismen einer Kaija Saariaho kann man mich gleich ganz verjagen, da das meiste davon schon vor vielen Jahren in ganz ähnlicher Verpackung bei anderer Aufschrift zu hören war.
Entsprechend erwartungsunfroh nahm ich also auch die neue Ondine-CD mit drei Orchesterwerken des 1948 geborenen Jukka Tiensuu aus der Verpackung. Doch die äußeren Vorbehalte wichen schlagartig, als das erste Stück einsetzte – ein Orchesterkonzert namens Vie (2007), das seinem (offenbar französischen) Titel von Anfang an alle Ehre macht und uns mit seinem pulsierenden, originellen Leben recht bei den Ohren nimmt. Diese Musik rast und tobt, sprüht, explodiert in wohlkalkulierten Detonationen, stürmt in kaum mehr als einer Viertelstunde durch alle erdenklichen Höhen, Tiefen, Längen und Breiten und ist bei aller Kühnheit obendrein auch noch äußerst einprägsam, während es sich trotz vieler Assoziationsmöglichkeiten jedem vergleichenden Beschreibungsversuch entzieht – ganz nach dem Wunsch des Verfassers übrigens, der den knappen Ausführungen des Begleittextes zufolge seine Werke am liebsten anonym spielen ließe, keinerlei Erläuterungen gibt und uns fatalerweise auf unsere eigenen Wahrnehmungen zurückwirft.
Was also wäre zu hören? Minimalistische Strecken, die aber auch nicht das Geringste mit der amerikanischen Ausprägung zu schaffen haben; erzrhythmische Pulse wie in Bernard Herrmanns North by Northwest-Musik; harmonisch scharf und frei und doch auch wieder von tonalen Inseln durchsetzt, ohne dass daraus ein „zurück-zu“ abzulesen wäre. Vielleicht sind ja auch das alles „Falsche Erinnerungen“, False Memories, wie die drei „Morphosen für Orchester“ aus dem Jahre 2008, in deren langsamem Mittelsatz sich die bloße Idee von „Nostalgie“ ausbreitet – eine verdichtete und zugleich aufgelöste Erinnerung, als wollte sich jemand so etwas wie Arnold Schönbergs Opus 16 zurückrufen oder was Feines von Alan Hovhaness, eine vergessene Schönheit, die ihre Konturen verloren hat und nur noch als Echo einer Sehnsucht klingt ...
Und dann gibt es noch die 2007 entstandene Missa, ein ausgewachsenes, knapp halbstündiges Klarinettenkonzert, das in seinen sieben, nach dem Ordinarium Missae bezeichneten Sätzen dem fabelhaften Solisten Kari Kriikku vermutlich alles an Tricks und Raffinesse abverlangt, was nur einigermaßen auf dem Rohrblatt möglich ist: Kurze, hingeworfene Motive, Glissandi, freches, kesses Gelächter, diabolisches Flüstern, ironisches Kreischen, dazu immer markante, äußerst eloquente Einwürfe und Kommentare des ebenso sparsam wie wirkungsvoll eingesetzten Orchesters, in dem der Pauker zeitweilig zum zweiten Solisten avanciert – eine Komposition von hohem Unterhaltungswert, schnurrig, launig, poetisch und sensibel, kurzum ein echter Gewinn wie die gesamte CD, die mich manche Redundanz der letzten Zeit auf einen Schlag hat vergessen lassen.
Rasmus van Rijn [02.11.2010]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Jukka Tiensuu | ||
1 | Vie (A Concerto for Orchestra, 2007) | 00:17:58 |
2 | Missa für Klarinette und Orchester (2007) | 00:28:17 |
9 | False Memories I-III (Morphoses for Orchestra, 2008) | 00:17:52 |
Interpreten der Einspielung
- Kari Kriikku (Klarinette)
- Helsinki Philharmonic Orchestra (Orchester)
- John Størgårds (Dirigent)