Diaghilev
Les Ballets Russes Vol. VI
SWRmusic 93.237
1 CD • 71min • 1985. 2005, 2007
27.09.2010
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Dass die hier vorliegende Gesamtaufnahme des Pulcinella schon ein Vierteljahrhundert hinter sich hat, wird man ihr kaum verargen: Christopher Hogwood, auf besondere Weise fast eine Idealbesetzung für dieses Stück prismatischer Geschichtsbrechung, läßt eine extrem schlanke Tanzmusik aufführen, der - von den markantesten „Stellen" der frechen Trompete einmal abgesehen - zwar ein wenig die latente Ironie genommen ist, die aber in ihrem eher klassischen als „neoklassizistischen" Schwung eine Altersfrage gar nicht erst aufkommen läßt. Das praktisch ungetrübte Vergnügen verdanken wir nicht zuletzt auch dem Vokalsolistentrio Arleen Augér (Sopran), Robert Gambill (Tenor) und Gerolf Scheder (Bass), das mit seiner echten Italianità trefflich zu Hogwoods Grundkonzeption paßt. Die einzige Einschränkung betrifft den redaktionellen Aspekt der Veröffentlichung: Wenn man schon aus Platzgründen vielleicht auf den Abdruck der Gesangstexte glaubte verzichten zu können - eine Biographie des damals 45-jährigen Gerolf Scheder hätte sich in jedem Fall neben den beiden prominenten Kollegen unterbringen lassen und wäre angesichts der künstlerischen Leistung des Sängers auch nicht bloß ein Akt der Höflichkeit gewesen.
Der weitere musikalische Verlauf der CD strebt dann freilich unaufhaltsam der Höchstnote für Interpretation zu. Sylvain Cambreling entfesselt zunächst das knappe, flirrende Feuerwerk op. 4 des Zauberlehrlings Igor Strawinskys dergestalt plastisch, dass man sich leicht vorstellen kann, wie da einst bei den Ballets russes die Funken flogen, und er beendet das Programm mit einer Valse von Maurice Ravel, nach der man süchtig werden kann: Von den tiefen, unruhigen Herzschlägen des Anfangs über die unwiderstehlich huschenden Duft- und Lichtwolken, die mit äußerster Dezenz neben den exakten Schlag gesetzten Tanzrhythmen und die kunstvoll ausgeleuchteten Seitenstimmen bis hin zu der beinahe gespenstisch-gleißenden Apotheose wölbt sich der Himmel über diesem Walzer, den man folglich immer wieder hören möchte.
Und Richard Straussí Till Eulenspiegels lustige Streiche, nach alter Schelmenweise in Rondeauform? Nun, dieses alterslose Wunder der Phantasie brachte Sylvain Cambreling mit dem Sinfonieorchester des SWR vor fünf Jahren so entwaffnend aufs Podium, daß wir sofort begreifen, warum Vaclav Nijinsky durch das Werk zu dem kleinen Ritterballett inspiriert wurde, das er 1916 während einer Amerika-Tournee der Ballets russes herausbrachte. Alles ist hier Ballett, ein dreidimensionales Ereignis, in dem nicht nur die vornehmsten Solisten (Horn und Klarinette), sondern vermöge einer sorgsamen Klangregie auch die Rand-Erscheinungen gehörig und hörbar in Szene gesetzt sind ? bis hin zur „wüthendenì Menge, die den Delinquenten auffallend hurtig-hysterisch zum Richtplatz schleift. Doch bekanntlich entweicht nach Entfernung des Hauptes das Wesen zu neuen Taten: Das Lustspiel in des Wortes weitestreichender Bedeutung geht in die nächste Runde, der Spaßvogel dreht den unfreiwilligen Harlekins eine geistreiche Nase, und der Rezensent kann sich nicht bezwingen, die grandiose Darbietung gleich noch ein- oder zweimal nachzukosten ? denn irgendwie fühlt(e) er sich hier „daheim".
Rasmus van Rijn [27.09.2010]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Igor Strawinsky | ||
1 | Pulcinella (Ballettmusik mit Gesang nach G. B. Pergolesi, 1919/1920) | 00:38:42 |
19 | Feu d'artifice op. 4 | 00:04:11 |
Richard Strauss | ||
20 | Till Eulenspiegels lustige Streiche op. 28 (Tondichtung in Rondoform nach alter Schelmenweise) | 00:13:59 |
Maurice Ravel | ||
21 | La Valse für 2 Klaviere (Poème choréographique) | 00:13:31 |
Interpreten der Einspielung
- Arleen Augér (Sopran)
- Robert Gambill (Tenor)
- SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg (Orchester)
- Christopher Hogwood (Dirigent)
- Sylvain Cambreling (Dirigent)