Olivier Messiaen
Die Orchesterwerke
SWRmusic SWR19421CD
8 CD • 9h 02min • 2000-2008
03.11.2008
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Als sich Hans Wollschläger selig im Jahre 1976 bei der Bayerischen Akademie der Schönen Künste für deren Literaturpreis bedankte, maulte er „In diesen geistfernen Zeiten“ am Ende doch wieder nur vom Missverhältnis zwischen Muse und Mammon. Und das, wo er den Finger doch so genau auf die Wunde gelegt hatte. Denn unsere Zeit, in der die Geistesferne, um nicht zu sagen: die Gottlosigkeit mit solch systematischer Präzision vorangetrieben wird, dass man inzwischen „Bekenntnisse“ selbst dann als rückständig behohnlächelt, wenn diese sich nicht an irgendwelche Institutionen binden – diese Zeit gefällt sich augenscheinlich in ihrer geistigen Selbstaushöhlung und scheint mit perverser Lust den ultimativen Domino Day zu erwarten, an dem der ganze wacklige Aufbau zusammenrasselt.
So besehen, löst schon das pure Vorhandensein dieser 8-CD-Box mit ihrem 120seitig-dreisprachigen Beiheft ein stilles Vergnügen aus, da ihr Inhalt ganz zwangsläufig den urewigen Konflikt zwischen Geist und Materie thematisieren wird. Natürlich will man veröffentlichungsstrategisch am 100. Geburtstag des Komponisten etwas verdienen (warum auch nicht?), natürlich sollen »Stückzahlen« erreicht werden und berechtigtermaßen hofft man darauf, dass sich die Liebhaber der modernen Klassik diese Jubiläumsveröffentlichung nicht entgehen lassen. Doch mit jedem Exemplar gelangt auch etwas von Olivier Messiaens Weltanschauung in Umlauf, und die zwingt dazu, sich auf das Gedankengut hinter der klingenden Oberfläche einzulassen – ob man will oder nicht.
Dieses merkwürdige Spannungsverhältnis – man weiß um die musikalische Bedeutung des Komponisten, will davon aber tunlichst den »religiösen« Aspekt im allgemeinen und den »katholischen« im besonderen abkoppeln –, dieser wunderliche Widerspruch ist der gesamten Veröffentlichung anzumerken. Schon den unter sachlich-fachlichen Gesichtspunkten sehr informativen und völlig untadeligen Einführungstext prägt dieser schmerzende Spagat zwischen der bahnbrechenden Neuheit der Modes de valeurs et d’intensités und der praktisch zeitgleich entstandenen Turangalîla-Symphonie, in der, wie wir lesen, „,Poème de l’extase’ und intellektuelles Kalkül, hollywoodeske, spirituelle und knirschend-dissonante Klänge so aufeinandertreffen, dass die alten Kategorien Stil und Geschmack außer Kraft gesetzt sind.“ Wie aber, wenn wir’s von oben her betrachteten, will sagen: als Spiegel nämlich eines Universums, in dem nicht nur alles nach Maß und Zahl geordnet, sondern auch Platz für alles ist, was sich nach schlichtgestricktem Menschenverstand nicht ineins fügen will? Wenn also diese vermeintliche Polystilistik etwas ganz anderes wäre als die vordergründig-frankensteinische Montage verschiedener Bausteine in der Hoffnung, dass ein belebender Blitz einschlägt?
Messiaen wollte nach eigenen Worten „Zartheit und Heftigkeit, Liebe und Ungestüm“ in seiner Musik spiegeln, wollte „die Begrenzungen der Zeit und ihre Allgegenwart spürbar“ werden lassen, von „göttlichen und übernatürlichen Mysterien“ künden. Die unendlichen Melodien und die Vogelstimmen, die vertrackten rhythmischen Konstruktionen und die kolossalen Klangtürme, die über die Jahrzehnte immer wiederkehrenden Zeichen und Figuren sind immer irgendwie vorhanden: mal radikal bis zu der „Épôde“ der Chronochromie, die vor fast fünfzig Jahren selbst den Donaueschinger Premierenbesuchern über die Hutschnur ging, dann wieder so unendlich schön wie in den langsamen Sätzen des letzten Orchesterwerks, den 1991 vollendeten Éclairs sur l’Au-Delà – es gibt eben keine Entwicklung in einem ewigen Universum, sondern nur wechselnde Konstellationen, Beleuchtungszustände, Verlagerungen, Umgruppierungen, und es gibt nur das unendliche Spiel von Farben und Formen.
Diese unerschütterliche Gewissheit ragt aus Olivier Messiaens Schaffen empor. Weniger groß scheint sein Zutrauen in die eigene Kommunikationsfähigkeit gewesen zu sein. Oder wie könnte man sich sonst erklären, dass er in der Tatsache, „als gläubiger Musiker über den Glauben zu Atheisten zu sprechen“, als eine Tragödie seines Lebens ansah? Litt er als musikalischer „Nachfolger Christi“ unter der Welt? Dann wär’s dem erzgläubigen Katholiken doch keine Tragödie gewesen. Bezweifelte er jedoch die quasi missionarische Durchschlagskraft seiner Wahrheiten, dann wären diese kein wirklicher Fels gewesen, auf dem er seine klingenden Dome hätte errichten können...
Die Antwort dürfte auch hier wieder einmal in der als erhaben anzunehmenden Mitte liegen, deren Verlust nicht erst seit Hans Sedlmayr zu beklagen ist. Aus dieser Mitte, einer inneren Überzeugtheit heraus, wäre jedenfalls die Musik Olivier Messiaens zu interpretieren, mit einer Glut, die gleichzeitig züngelnde Flamme und gefrorenes Feuer, schärfstes Architekturdenken und wüsteste Improvisation sein müsste. Und da, kommt mir vor, neigt sich die Waagschale ein wenig zu Lasten der so unverzichtbaren, sinnlich-ekstatischen Spontaneität. Es fehlt den Interpretationen gelegentlich (das sei wiederholt: gelegentlich) die Inbrunst, das von innen heraus Explodierende, der immer erneuerte Urknall eines „Es werde...“ Das fällt vor allem in der kosmischen Hektik der wilden Turangalîla-Sätze, in den Lichtstrudeln am Ende der Abschnitte V und X auf; es wäre in der Transfiguration de Nôtre Seigneur Jésus-Christ besonders da angebracht, wo das Läuten der Gamelan-Schläge, die statische Kinetik dieser wahrlich ver-rückten Rhythmen und Impulse obsiegt; und der bereits erwähnten »Vogelstimmen-Fuge« aus der Chronochromie, dieser Morgenstimmung eines sich allmählich belebenden Waldes mit all seinen Sängern, hätte eine etwas räumlichere und dynamischere Staffelung gut getan.
Dennoch ist der Gesamteindruck dieser Kollektion ein durchaus erfreulicher, nicht zuletzt wegen der immer engagierten pianistischen Beiträge von Roger Muraro, der in mannigfacher Hinsicht brillieren kann, und vermöge eines Orchesters, das mit Messiaen ja förmlich aufgewachsen ist: Als sich Hans Rosbaud und Josef Häusler noch für den Franzosen weit aus dem Fenster lehnten, hieß das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg zwar noch anders; aber was damals einströmte, ist auch „in unseren geistfernen Zeiten“ noch nicht unter die Räder gekommen. Ein Grund dafür ist sicherlich die Persönlichkeit des Komponisten; ein anderer geht noch weiter, denn: „Die Kunst ruht auf einer Art religiösem Sinn, auf einem tiefen, unerschütterlichen Ernst; deswegen sie sich auch so gern mit der Religion vereinigt.“ Das jedenfalls meinte ein gewisser Geheimrat aus Frankfurt am Main. Der Name war Goethe.
Rasmus van Rijn [03.11.2008]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Olivier Messiaen | ||
1 | Die vergessenen Opfer (Méditation symphonique) | 00:11:07 |
2 | Die Himmelfahrt für Orchester (Vier sinfonische Meditationen) | 00:25:24 |
6 | Poèmes pour Mi | 00:26:36 |
CD/SACD 2 | ||
1 | Turangalîla-Sinfonie für Klavier, Ondes Martenot und großes Orchester | 01:19:43 |
CD/SACD 3 | ||
1 | Réveil des Oiseaux für Klavier und Orchester | 00:23:26 |
2 | Oiseaux exotiques | 00:15:08 |
4 | Chronochromie für großes Orchester | 00:21:23 |
CD/SACD 4 | ||
1 | Et expecto resurrectionem mortuorum für Holzbläser, Blechbläser und Schlaginstrumente | 00:33:21 |
6 | La Transfiguration de Notre Seigneur Jésus-Christ | 01:39:35 |
CD/SACD 6 | ||
1 | Des Canyons aux Étoiles | 01:42:38 |
CD/SACD 7 | ||
6 | La ville d'en haut | 00:08:45 |
7 | A Smile for Orchestra (1989) | 00:10:39 |
CD/SACD 8 | ||
1 | Éclairs sur l'au-delà | 01:16:29 |
Interpreten der Einspielung
- Roger Muraro (Klavier)
- Yvonne Naef (Mezzosopran)
- SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg (Orchester)
- Sylvain Cambreling (Dirigent)