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Besprechung CD

W. A. Mozart

The Essential Symphonies Vol. IV

SWRmusic 93.214

1 CD • 68min • 2006

19.03.2008

Künstlerische Qualität:
Künstlerische Qualität: 8
Klangqualität:
Klangqualität: 8
Gesamteindruck:
Gesamteindruck: 8

Die Mozart-Sinfonien, die Roger Norrington und das RSO Stuttgart 2006 beim Europäischen Musikfest aufführten – acht Konzerte mit ungefähr einem Drittel der 67 erhaltenen Sinfonien, die in sechs Folgen bei Hänssler auf CD veröffentlicht werden – erregten Aufsehen. Die ersten vier CDs sind soeben erschienen, zwei weitere folgen in den nächsten Monaten. Das ganze Projekt war interessant konzipiert und wurde musikalisch spannend umgesetzt: In acht Mittagskonzerten erklang in kleinen bis mittleren Besetzungen eine Auswahl aus Werken der frühen und mittleren Schaffenszeit Mozarts; in zwei weiteren Konzerten wurden dann die letzten Sinfonien in einer großen Besetzung mit zwölf ersten Violinen und verdoppelten Bläsern gespielt. Norrington ist bestrebt, „die Spielweise der damaligen Zeit so authentisch wie möglich wiederzugeben“. Liest man Norringtons Erklärungen und hört dann die Resultate, so tun sich doch einige Widersprüche auf. Zum Beispiel war zu Mozarts Zeiten die Aufführung mit sehr großen Orchestern die Ausnahme und nicht Regel, und zwar aus einem einfachen Grund: Es gab keine Dirigenten, und die Herstellung der Klangbalance blieb den Musikern überlassen, geführt vom Konzertmeister und vom Continuo-Spieler. Bei kleineren Ensembles stellte sich diese Balance leichter ein; bei zu großen Besetzungen wurde das Continuo-Instrument oft unhörbar, wenn es nicht auch verdoppelt wurde.

Neal Zaslaw beschrieb in seinem maßgeblichen Buch Mozart’s Symphonies: Context, Performance Practice, Reception (ISBN 0-10-816286-3) ausführlich die Parameter für die zeitgemäße Aufführungspraxis. In einer Tabelle teilt er unter anderem mit, welche Sinfonien für welche Orchester geschrieben wurden und wie diese Orchester wann besetzt waren. Demzufolge ist nur eine einzige Sinfonie überhaupt für ein wirklich großes Orchester entstanden – die Pariser Sinfonie Nr. 31 KV 297/300a (sie wird auf Vol. VI zu finden sein), die in Paris bei den Concerts Spirituel mit einer Streicherbesetzung von 11-11-5-8-5 aufgeführt wurde. So große Streicherbesetzungen gab es sonst nur noch bei den Opernorchestern in Mailand, Turin und Neapel, die 1770, 1773 und 1774 weitere Sinfonien von Mozart aufgeführt haben (KV 73, 74a,74c, 111a, 112, 135, 141a). Die späten Sinfonien sind jedoch in der Regel für kleinere Besetzungen geschrieben worden, namentlich das Orchester des Wiener Burgtheaters mit Streichern 6-6-4-3-3 und das Orchester in Prag, das aber sogar nur mit 3-3-2-2-2 Streichern besetzt war (Prager Sinfonie K 504, hier mit 44 statt mit 12 Streichern!/Vol. IV).

Natürlich ist nichts dagegen vorzubringen, daß ein Dirigent sich zunächst kundig macht und dann im Einzelfall seine künstlerische Entscheidung trifft. Doch für jeden, der sich intensiver mit originalnaher Aufführungspraxis befaßt, ist es ärgerlich, wenn Norrington in seinen schriftlichen Äußerungen einerseits stets betont, „so authentisch wie möglich“ zu musizieren, aber auf der anderen Seite dann das schiere Gegenteil tut. Dies betrifft alle möglichen Detailfragen – Balance, Orchestergröße, Bogenführung, Artikulationen, Tempi und Wiederholungen. So läßt Norrington zum Beispiel in romantischer Tradition ausgerechnet in den da Capos der Menuette die Wiederholungen weg. Andererseits arbeitete Zaslaw (sein Buch, S. 501ff) überzeugend heraus, daß es eben gängige Praxis war, gerade auch bei da Capos Wiederholungen stets zu spielen, es sei denn, der Komponist habe ausdrücklich (wie auch Daniel Gottlob Türk 1802 in seiner Klavierschule schreibt) „ma senza replica“ vorgegeben. Ganz fehlt bei Norrington dagegen die damals ebenfalls gängige Praxis, bei Wiederholungen solcher Teile mitunter zu variieren und Verzierungen anzubringen.

Weiterhin beschreibt Norrington im Booklet, er habe bei den großen Besetzungen ausprobiert, laute Stellen vom ganzen Orchester, leise Stellen vom halben Orchester spielen lassen – „in Anlehnung an ein zeitgenössisches System, das wahrscheinlich auch bei Händel und Haydn zum Einsatz kam,“ wie Norrington meint. Für eine solche Praxis in Mozarts Sinfonien fand ich jedoch keinerlei Belege, mich würde interessieren, auf welche Quelle sich Norrington hier beruft. Das klangliche Resultat wirkt auf mich jedenfalls nicht sonderlich überzeugend, zumal die Balance generell ein großes Problem ist, denn die Blechbläser neigen oft dazu, den Rest zu übertönen. Norringtons frühe Aufnahmen der späten Mozart-Sinfonien mit den London Classical Players wirken weit ausgewogener und natürlicher im Klang.

Auch die Detailgestaltung ist ausgesprochen eigenwillig: So fragt man sich zu Beginn der Jupiter-Sinfonie (Vol. I, Tr. 8), warum Norrington jeden Tusch sukzessive lauter spielen läßt. Forte, più forte, fortissimo steht nicht in der Partitur; im Gegenteil verlangt die Gewichtung schwerer und leichter Takte und Taktteile eigentlich eine nachdrücklichere Betonung des Anfangs-Akkords. Man sollte jedenfalls nicht denken, daß es sich bei solchen Aufführungspraktiken, wie sie Norrington ausprobiert, in Mozarts Zeiten um die Regel handelte – zumal der Dirigent auch hier inkonsequent ist: So ist es zwar eine wunderbare Bereicherung, endlich einmal Mozarts frühe Sinfonien mit einem Cembalo-Continuo hören zu können, doch ausgerechnet in den späten, groß besetzten Sinfonien fehlt das Continuo dann wieder – was sehr schade ist: Man stelle sich einmal vor, was man mit einer reichen Continuo-Gruppe aus Cembalo, Orgelpositiv und Fortepiano alles an differenzierten Klangwirkungen erzielen könnte! (In diesem Zusammenhang: der bei diesen Aufführungen beteiligte vorzügliche Continuospieler wird im Booklet nirgends namentlich genannt.)

So bleibt unterm Strich ein typisches Norrington-Resultat dieser Tage: Einige Erkenntnisse aus der originalnahen Aufführungspraxis werden von einem modernen Sinfonieorchester umgesetzt und die Werke vom Dirigenten nach Gusto und sehr eigenwillig gestaltet (schade, daß er das in seinen Booklet-Anmerkungen nicht einfach so schreibt!). Das soll nun allerdings nicht heißen, daß es sich um unbefriedigende Einspielungen handeln würde. Dazu ist Norrington ein viel zu guter Musiker, der immer wieder für Überraschungen und Anregungen gut ist. Das RSO Stuttgart stürzte sich mit hörbarer Begeisterung in das Abenteuer, mit nur je einer Haupt- und einer Generalprobe zwei Wochen lang intensiv in Mozarts Sinfonien einzusteigen. Und die Aufführungen stehen allesamt auf hohem Niveau. Die Atmosphäre der Konzerte muß elektrisierend gewesen sein; es gelang der Tontechnik, diese Spannung zu erhalten. Doch vergleicht man Norringtons neue Mozart-Einspielungen mit denen unter Nikolaus Harnoncourt (deutsche harmonia mundi, 7CD 82876892682), so finde ich zwar schade, daß Harnconourt sich nicht hatte dazu durchringen können, ebenfalls ein Cembalo zu verwenden, das bei Norrington die Farbigkeit des Gesamtklangs ungemein bereichert, doch wirken Mozarts Sinfonien dessen ungeachtet bei Harnoncourt weitaus charakteristischer und bestürzender.

Was mich schließlich empfindlich stört, ist der provokativ beigegebene Applaus – eine „Live-Atmosphäre“ suggerierende Marotte, die auf Bild-Tonträgern Berechtigung haben mag, die ich aber auf reinen Audio-Medien für unangemessen halte, weil sie den Hörer daheim immer wieder recht unsanft aus den inneren Welten solcher Musik reißt.

Dr. Benjamin G. Cohrs [19.03.2008]

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Komponisten und Werke der Einspielung

Tr.Komponist/Werkhh:mm:ss
CD/SACD 1
Wolfgang Amadeus Mozart
1Sinfonie Nr. 22 C-Dur KV 162 00:08:11
4Sinfonie Nr. 33 B-Dur KV 319 00:22:46
8Sinfonie Nr. 38 D-Dur KV 504 (Prager Sinfonie) 00:36:33

Interpreten der Einspielung

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