Opera Rara ORC33
3 CD • 2h 57min • 2005
16.07.2007
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Den Kennern historischer Sängeraufnahmen fallen zu dieser Oper zwei Titel ein: Deserto in terra, gesungen von Caruso, und O Lisbona aus dem Repertoire Battistinis. Sonst aber steht Donizettis letztes vollendetes Opernwerk, eine seiner umfangreichsten und gehaltvollsten Schöpfungen, im Schatten der Erfolgsopern des Komponisten. Umso wichtiger, daß wir nun eine vollständige Version des viel zuwenig bekannten Meisterwerks zur Verfügung haben. Genau genommen handelt es sich hier um eine Schallplatten-Premiere, denn von den bisherigen Aufnahmen (meistens in italienischer Fassung) unterscheidet sich diese Produktion grundlegend. Was von Opera rara vorgestellt wird, ist die französische Urfassung des Dom Sébastien, ungekürzt, auf Basis der rekonstruierten, 2003 bei Ricordi erschienenen Partitur, mit Einbeziehung der kompletten Ballettmusik, die in diesem Fall von beträchtlichem Umfang ist.
Es ist bekannt, daß der Komponist sehr viel von diesem Werk hielt und es als sein „opus magnum“ ansah. Die zwar positive, aber doch ziemlich kühle Reaktion bei der Pariser Premiere 1843 hat ihm begreiflicherweise eine herbe Enttäuschung bereitet. Erst in der Umarbeitung für Wien, zwei Jahre später (in deutscher Sprache), stellten sich Erfolg und Anerkennung ein. Dom Sébastien ist geradezu ein Paradefall für das Genre der „Großen Oper“: fünf Akte, fünf Hauptpartien, dazu gewaltige Aufgaben für Ausstattung, für Chor und Ballett. Es ist unübersehbar, daß Donizetti hier mit dem in Paris dominierenden Meyerbeer in Konkurrenz zu treten hatte – ebenso aber auch, daß er gegenüber den hitzigen Effekten von Robert le diable und Les Huguenots unterlegen bleiben mußte. Die großformatige Partitur läßt erkennen, daß Donizetti sich auf einer neuen Stufe seiner Entwicklung befand. Es ließen sich da allerlei Zukunfts-Spekulationen unternehmen, denn der Mittvierziger wäre sicher noch zu ganz anderen künstlerischen Zielen vorgedrungen, wenn ihn nicht Wahnsinn und Tod vernichtet hätten. Erstaunlich sind jedenfalls die vielen Vorausdeutungen auf Verdi, auch auf dessen späte Periode (Don Carlos) und am erstaunlichsten: im Trauermarsch des dritten Aktes (und auch bereits in der Ouvertüre) gibt es ein frappierendes Mahler-Zitat (aus den Liedern eines fahrenden Gesellen). Hier hat anscheinend das musikalische Geisterreich mitgespielt. Der dritte und vierte Akt des Dom Sébastien enthält Musik, die zum Besten gehört, was italienische Opernkunst hervorgebracht hat.
Eine Erschwernis für das Werk und seine Bühnenlaufbahn ist seine etwas verworrene und triviale Handlung. Das Libretto von Eugène Scribe beruht auf einem Thema, das in damaligen Operntexten oft auftaucht (so auch in Verdis Alzira und Il Corsaro): der Gegensatz von Morgen- und Abendland. Der „Zusammenprall der Zivilisationen“ wird allerdings in einer Weise behandelt, die nach heutigen Erfahrungen reichlich naiv anmutet. Was uns hier begegnet, ist der Konflikt zwischen Opern-Christen und Opern-Mohammedanern. Daß Scribe – eigentlich ohne dramaturgische Motivation – den Klassiker der portugiesischen Literatur, den Dichter Camoës, in die Handlung einbezog, hat nur eine einzige plausible Erklärung: es mußte eine Rolle für den berühmten Baritonisten Barroilhet geschaffen werden. An diesem Beispiel zeigen sich Rückschritte in alte Opern-Konventionen.
Die Wiedergabe auf pera rara (ein Konzert-Mitschnitt aus der Covent Garden Opera) zeichnet sich durch Sorgfalt und schönste Bemühung aus. Das Londoner Orchester unter Mark Elder und der Chor bieten beispielhafte Leistungen, alles im besten Sinne perfekt. Die großen Solopartien (bei der Pariser Premiere sangen die allerersten Kräfte des Opernhauses) in gleichmäßiger Qualität zu besetzen, ist freilich kein leichtes Unternehmen. Immerhin hat Vesselina Kasarova als Marokkanerin Zayda reichlich Gelegenheit zu seelenvollem Gesang und dramatischem Ausdruck. Sie ist keine Idealbesetzung, da die Stimme in der unteren Lage etwas „ausläßt“, dennoch beeindruckend durch intensive Gestaltung. Mit angenehmem Gesangston in der mittleren Lage bewältigt Giuseppe Filianoti die Titelpartie, allerdings etwas zu passiv für eine Rolle, die dem dramatischen Tenor Duprez, den Meister der hohen Töne, zugedacht war. Gerade in der Höhenregion kann sich Filianoti nur mit Anstrengung durchsetzen. Alastair Milnes, auf Oberpriester-Rollen aus dem Baßbezirk geradezu abonniert, stellt markant den Großinquisitor Dom Juam de Sylva dar. Als Poet Camoës ist Carmelo Corrado Caruso zu hören, in diesem Fall hätte man sich ein weniger rauhes Organ gewünscht. Mit prächtigem Gesang und kraftvoll-dramatischem Vortrag gestaltet Simon Keenlyside den arabischen Feldherrn Abayaldos, eine Rolle, die gelegentlich auch von Tenoristen gesungen wurde.
Man mag über Einzelheiten der Wiedergabe geteilter Meinung sein, doch steht fest, daß Opera rara sich mit dieser Produktion einen Ehrenplatz verdient hat. Ebenso verdient das sorgfältig gestaltete Begleitbuch mit Libretto (französisch-englisch), Inhaltsangabe und historischen Beiträgen, einen Pokal.
Clemens Höslinger [16.07.2007]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Gaetano Donizetti | ||
1 | Don Sebastiano |
Interpreten der Einspielung
- Giuseppe Filianoti (Dom Sébastien, König von Portugal)
- Alastair Miles (Dom Juam de Sylva, Großinquisitor)
- Simon Keenlyside (Abayaldos, ein Häuptling)
- Carmelo Corrado Caruso (Camoëns, ein Dichter)
- Robert Gleadow (Dom Henrique)
- John Upperton (Dom Antonio, Erster Inquisitor)
- Lee Hickenbottom (Zweiter Inquisitor)
- Andrew Slater (Ben-Sélim)
- Martyn Hill (Dom Luis)
- Nigel Cliffe (Soldat)
- John Bernays (Dritter Inquisitor)
- Royal Opera Chorus (Chor)
- Orchestra of the Royal Opera House (Orchester)
- Sir Mark Elder (Dirigent)