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Besprechung CD

Roger Norrington

Mahler

SWRmusic 93.164

1 CD • 53min • 2006

03.07.2006

Künstlerische Qualität:
Künstlerische Qualität: 8
Klangqualität:
Klangqualität: 8
Gesamteindruck:
Gesamteindruck: 8

Auch mit dieser Neueinspielung der vierten Sinfonie Mahlers dürfte Roger Norrington Mahlerianer wieder nachhaltig verstören – wie schon 2005 mit der ersten Sinfonie (Hänssler Classic 93.137), die übrigens, anders als von Norrington in seinem neuen Booklet angedeutet, keinesfalls “stürmisch von der Kritik begrüßt”, sondern von dem her, was ich dazu gefunden habe, ausgesprochen kontrovers rezensiert wurde. Natürlich hat sich Norrington wie gewohnt intensiv mit der Aufführungspraxis auseinandergesetzt. Die vierte Sinfonie hat er jahrelang mit verschiedenen Orchestern aufgeführt, bevor dieser nachbearbeitete Live-Mitschnitt vom September 2006 für CD aufgenommen wurde. Auch seiner Argumentation mag man sich nicht verschließen, wenn man sie am klanglichen Ergebnis prüft. Das vibratoarme Spiel bei Mahler ist in der Tat sehr wirkungsvoll, zumal das RSO Stuttgart in Sachen Bogentechnik hörbar weitergekommen ist: Der Streicherklang ist noch etwas weicher und seidiger geworden. (Vielleicht hat das meist verpönte, hier jedoch erfreulich üppig zu seinem Recht gekommene Portamento-Spiel zu noch mehr Freiheit beigetragen?)

Man hört allerdings auf der von Norrington als Referenz herangezogenen Einspielung der Neunten unter Bruno Walter (EMI 5 62964 2, 16.01.1938) deutlich, daß bei den Wiener Philharmonikern damals auch die Holzbläser nahezu ohne Vibrato gespielt haben. Hier hätten die Stuttgarter Kollegen durchaus noch zu arbeiten. Zudem darf nicht verschwiegen werden, daß die unter Walter hörbaren Blasinstrumente weitaus farbiger geklungen haben als die heutigen und überdies die Holzblasinstrumente überwiegend gemäß der damals noch verbreiteten “reinen Stimmung” intoniert waren (Position der Klappen-Bohrlöcher). Zum von Norrington propagierten “reinen Ton” würde jedoch auch eine reine Stimmung gehören. Heute herrscht allerdings bei Orchestern eine vom Klavier abgeschaute Kompromiß-Stimmung vor; die Blasinstrumente sind im Bau längst daran angepaßt. Es ist zwar nicht unmöglich, mit einer Palette bestimmter Spezialgriffe oder Ansatztechniken auch auf heutigen Holzblasinstrumenten anders zu intonieren, doch stehen dem in der Regel mangelndes Bewußtsein, Spielroutine und Bequemlichkeit entgegen.

Fundiert sind auch Norringtons Hinweise auf die Tempowahl bei den einzelnen Sätzen, die auf gründlichen Studien beruht und sich im Finale nicht zuletzt an der berühmten Einspielung von Mahler selbst auf einer Welte-Mignon-Klavierrolle von 1905 orientiert. Freilich mag dem Briten, der sicherlich mit Aufführungen unter Horenstein, Klemperer und Barbirolli groß wurde, die eigene Interpretation weitaus flüssiger und kontrastreicher vorkommen, als es ein mit dem Werk Vertrauter empfindet, der auch mit Aufnahmen kontinentaler Tradition vertraut ist – etwa Bruno Walter, Willem Mengelberg oder insbesondere Rafael Kubelik, dessen Interpretation aus dem Jahr 1968 (Sinfonieorchester des BR, DGG 459 242 2) im Duktus und von den Tempi her ganz ähnlich angelegt ist wie diejenige Norringtons – beide brauchen knapp 52 Minuten, während beispielsweise Barbirolli (BBC Symphony Orchestra, 3. Januar 1967, IMG BBC Legends 4014-2) gut acht Minuten mehr benötigte.

Unerschrocken angesichts von Musikkritiker-Gralswächtern, die an die sogenannte “absolute” Sinfonie glauben, weist Norrington im Booklet schließlich zu Recht darauf hin, daß Mahler auch in der vierten Sinfonie eine Geschichte zu erzählen hatte. Sie steht mithin in der Tradition der “Sinfonia Caratteristica”, seit der Wiener Klassik eine sinfonische Abfolge charakteristischer Szenen. Für Norrington ist das Stück eine “Kindertotensinfonie”. “Der Gedanke, eine ganze Sinfonie als Vorspiel zu einem Lied zu schaffen, das von einem Kind im Himmel gesungen wird, musste zwangsläufig eine ganz bestimmte Frage beantworten: Wie starb das Kind?” Norrington bringt dies zusammen mit der Biographie Mahlers und kommt dabei zu interessanten und sicher sinnvollen, manchmal jedoch einengenden und fragwürdigen Deutungen. Den ersten Satz nennt er ein “frühes Arkadien”, das “mit einer Schlittenfahrt” beginnt. Warum dann nicht doch eine Kinderrassel? Und denkt man hinsichtlich des Finale an das Sprichtwort “Kindermund tut Wahrheit kund”, möchte man sich als Hörer auch nicht gern den Gedanken an die Schelle des Narren nehmen lassen, der damit auftritt, bevor er bittere Wahrheiten ausspricht. Und die sind, wie immer bei Mahler, fundamental und kommen zu Beginn des Finales zum Ausdruck – fast schon eine Ketzerei, da Mahler unterstellt, wir würden unseres wahren Lebens nicht froh, wenn wir uns hier unten nur auf unser himmlisches Leben vorbereiten. Der Text des Liedes fehlt übrigens im Beiheft – auch wenn man gottlob bei der vorzüglichen Solistin Anu Komsi auch noch im lautesten Getöse jedes Wort versteht.

Doch gerade die Doppelbödigkeit des Werkes kitzelt Norrington für mein Empfinden nicht genügend heraus. Es gibt neben herrlichen, sorgsam den Affekt herausstellenden, auch zu Herzen gehenden Momenten auch Passagen von befremdlicher Kühle und Nüchternheit, die mitunter der intendierten Aussage der Partitur entgegenstehen zu scheinen. Schön musiziert, durchdacht, oft anrührend? Ja, all das – wie schon bei Norringtons Einspielung der ersten Sinfonie (die witzigerweise das gleiche Coverphoto des Dirigenten verwendet). Doch “ergreifend” oder “erhebend” (wie beispielsweise die phänomenale Aufführung, die ich mit dem Gustav Mahler Jugendorchester und Claudio Abbado Ende April 2006 im Münchner Herkulessaal hören durfte, nach deren Ende minutenlange Stille herrschte) ist diese CD leider nicht. Und würde man nicht genau das von einer “Kindertotensinfonie” erwarten?

Schade übrigens ist in diesem Zusammenhang, daß man nicht auf die Idee kam, dieser vierten Sinfonie anstelle von einer Minute Schlußapplaus (der den Hörer am Ende der CD ziemlich abrupt und geschmacklos aus der Stimmung reißt – hier wird der "Live"-Charakter geradezu pervertiert!) eben die “Kindertotenlieder” selbst noch beizugeben. 27 übrige Minuten hätten dafür durchaus gereicht...

Dr. Benjamin G. Cohrs [03.07.2006]

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Komponisten und Werke der Einspielung

Tr.Komponist/Werkhh:mm:ss
CD/SACD 1
Gustav Mahler
1Symphony No. 4 G major for Soprano and large Orchestra 00:52:49

Interpreten der Einspielung

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