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Besprechung CD

Zig Zag Territoires ZZT050502

1 CD • 76min • 2004

28.06.2005

Künstlerische Qualität:
Künstlerische Qualität: 6
Klangqualität:
Klangqualität: 8
Gesamteindruck:
Gesamteindruck: 6

Erst bei genauerem Hinsehen erkennt man, womit man es hier zu tun hat: mit der Ersteinspielung russischer Paradepferde der Orchestermusik in historisch informierter Aufführungspraxis. Denn Dirigent Jos van Immerseel scheint es müde geworden zu sein, in seinen bisher so informativen Beiheften über von ihm verwendeten Instrumente und Spielweisen aufzuklären. Den Werk-Kommentar hat er Cècile Reynaud überlassen (mit einem oberflächlich-saloppen Resultat); vom Dirigenten ist ein ausgesprochen beiläufiger Text beigegeben, der im Vorfeld der Aufführungen bei den Tagen Alter Musik in Regensburg entstanden war. Demzufolge hatten die Musiker „Zeit, ihre Instrumenten-Sammlungen zu erweitern und verfeinern, was dem Ganzen wieder mehr Tiefe geben wird.“ Doch um was für Instrumente es sich genau handelt, wird nicht mitgeteilt. Auch Hinweise darauf, was für Instrumente und Spielweisen in den Orchestern von Moskau und St. Petersburg in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts üblich waren, sucht man vergeblich. Zu Recht beklagt Immerseel, daß viele Repertoirestücke heute „oft gedankenlos runtergeleiert“ werden. Doch eben dies passiert ihm leider hier selbst, insbesondere in der Shéhérazade und der Ouvertüre Russische Ostern: Figurenwerk wie aus der Nähmaschine plappert belanglos einher. Es gibt nur wenig Rubato; die Tempi sind starr und oft hektisch. Die Streicher sind mit 8-8-6-6-5 zu schwach besetzt. Immerseel meint dazu hingegen, das sei für das 19. Jahrhundert „sogar ziemlich groß“. Ihm sei die Lektüre von Daniel Kourys Referenz-Buch Orchestral Performance Practices in the Nineteenth Century dringend empfohlen, aus dessen Übersichten sich ergibt, das um 1890 (also ungefähr der Entstehungszeit der hier eingespielten Werke) die Mehrzahl der Konzertorchester stark am Wachsen und die Streicher schon weit größer besetzt waren (Gewandhausorchester Leipzig 1890: 20-20-13-10-10; Conservatoire Orchester Paris 1878: 15-14-10-15-10; Preussische Staatskapelle Berlin 1890: 12-10-8-8-8 etc.), auch wenn es natürlich in kleineren Städten kleinere Orchester gab. So bekommt Immerseel in dieser Aufnahme das Kunststück fertig, daß er die von ihm beklagte falsche Balance moderner, in der Tat oft zu großer und zu lauter Orchester eins zu eins auf sein Orchester Anima Eterna überträgt. Zwar sind die von ihm offensichtlich verwendeten alten Blechblasinstrumente gut ein Drittel schwächer als die heutigen, doch da sein Streichorchester nicht nur sehr klein besetzt ist, sondern auch noch umsponnene Darmsaiten verwendet, wirken die Blechbläser in den lauten Tutti immer noch erdrückend, auch wenn die Holzbläser durch die stärkere Eigenfarbigkeit der alten Instrumente und das reduzierte Vibrato der Streicher bessere Chancen haben, sich im Gesamtklang durchzusetzen. Vor allem jedoch hört man von den Streichern mit Ausnahme der omnipräsenten ersten Geigen nichts weiter als undifferenzierten Klangbrei (zweite Geigen, Bratschen und Celli) – und das, obwohl Immerseel sogar die im 19. Jahrhundert übliche Gegenüber-Positionierung der Geigengruppen verwendet, die im allgemeinen die Durchsichtigkeit und Räumlichkeit des Streicherklangs erhöht. All dies könnte man noch verschmerzen, würden die farbenprächtigen Meisterwerke von Rimski-Korssakoff nicht so kurzatmig (Violin-Soli!) und imaginationsarm dargeboten. Die Architektur und Vielschichtigkeit der Shéhérazade haben zuvor Rostropowitsch (in seinem CD-Dirigierdebut mit dem Orchestre de Paris, EMI 5 66715 2) und insbesondere Celibidache und das RSO Stuttgart des SWR (DGG 445 141 2) wunderbar herausgearbeitet. Bei ihnen versteht man auch die zyklische Sonaten-Anlage des Werkes, die man im Gegenzug zum strengen Formbegriff romantischer Dogmatiker der Musiktheorie eine „charakteristische Sinfonie“ nennen könnte (die Beiheft-Autorin bekundet freimütig, die sinfonische Form des Stückes nicht verstanden zu haben...).

Immerseel läßt die Themen weder aussingen und schwingen, noch disponiert er angemessen die Höhepunkte des Werkes. Auch die Farben bleiben stumpf, trotz der alten Instrumente. Die Russische Ostern-Ouvertüre klingt von allem Weihrauch und Pathos befreit, aber dadurch zugleich auch völlig entzaubert – kein Vergleich beispielsweise mit der feurigen Darbietung von Hermann Scherchen und dem London Symphony Orchestra (Nixa/Dutton Laboratories 6021). Einigermaßen versöhnt wird man erst bei den berühmten Polowetzer Tänzen in der rein orchestralen Bearbeitung Rimski-Korssakoffs und dem im Volksmund Steppenskizze genannten Bild In Mittelasien von Alexander Borodin, das hier endlich atmend und spannend musiziert wird. Auch die Dramaturgie mutet seltsam an: Die Oster-Ouvertüre steht in keinerlei Beziehung zu den umliegenden Werken, wie ein Block, während zumindest die Steppenskizze und die Tänze durch motivische Ähnlichkeiten so natürlich aufeinander folgen, als ob sie in einem Zug komponiert worden wären. (Für mich waren übrigens beide in dieser Kombination immer eine fantastische Ergänzung der unvollendeten dritten Sinfonie von Borodin, deren Kopfsatz und Scherzo Glasunow nach Borodins Tod anhand weniger Skizzen und aus der Erinnerung an Borodins Klavierspiel ausgeführt hat.) Insgesamt ist diese Produktion unter Immerseel nach den spannenden Schubert-Sinfonien oder jüngst seiner fulminanten Einspielung mit Werken von Franz Liszt eine herbe Enttäuschung.

Dr. Benjamin G. Cohrs [28.06.2005]

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Komponisten und Werke der Einspielung

Tr.Komponist/Werkhh:mm:ss
CD/SACD 1
Nikolai Rimsky-Korssakoff
1Scheherazade op. 35 (Sinfonische Suite aus "Tausend und eine Nacht")
2Russische Ostern op. 36
Alexander Borodin
3Eine Steppenskizze aus Mittelasien (sinfonische Skizze)
4Polowetzer Tänze (aus: Fürst Igor)

Interpreten der Einspielung

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