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Besprechung CD

Roger Norrington

Mendelssohn Bartholdy

SWRmusic 93.132

1 CD • 72min • 2004

13.06.2005

Künstlerische Qualität:
Künstlerische Qualität: 7
Klangqualität:
Klangqualität: 8
Gesamteindruck:
Gesamteindruck: 7

Auch wenn ich an sich ein Bewunderer von Roger Norrington und des RSO Stuttgart bin, war ich doch einigermaßen enttäuscht von dieser Neuproduktion mit den beiden Sinfonien c-Moll (1824) und d-moll (1829/30) von Felix Mendelssohn-Bartholdy – zwei Werken, die aufgrund ihrer Publikationsgeschichte fälschlich immer noch als Nr. 1 und Nr. 5 bezeichnet werden. In der Tat war der c-Moll-Sinfonie 1823 bereits die Orchester-Bearbeitung der Streichersinfonie Nr. 8 D-Dur vorangegangen; der dritten Sinfonie Reformation folgte die Italienische (als einzige korrekt als Nr. 4 bezeichnet), sodann die aus einer ursprünglichen Instrumentalsinfonie hervorgegangene, „Nr. 2“ genannte Sinfonie-Kantate Lobgesang (1840) und schließlich die sechste und letzte Sinfonie, die Schottische in a-Moll (beendet 1842), genannt „Nr. 3“.

Erschwerend kommt hinzu, daß es wie bei Bruckner von manchen Sinfonien Mendelssohns mehrere Fassungen gibt. Das gilt auch für die c-Moll-Sinfonie, deren ursprüngliches Menuett Mendelssohn 1829 gegen eine Orchesterbearbeitung des Scherzos aus seinem berühmten Oktett (1825) austauschte, bei Drucklegung der Sinfonie 1834 bestand er dann wieder auf dem ursprünglichen Menuett. Das Scherzo wird leider nur selten von Dirigenten einbezogen – etwa in Konzerten durch die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen unter Daniel Harding – und ist in Zusammenhang mit der Sinfonie bislang nicht auf CD zu hören gewesen. Leider hat auch Norrington darauf verzichtet, obgleich das Aufführungsmaterial nach wie vor erhältlich ist. Dieses zündende Scherzo, das mir nur in einer Einspielung der Nieuw Sinfonietta Amsterdam unter Lev Markiz vorliegt (BIS 966/968), hätte mit seinen viereinhalb Minuten diese Produktion lohnender abgerundet als die neuneinhalb Minuten dauernden Einführungen – von Roger Norrington auf Englisch gesprochen –, die als Tr. 9 und 10 angefügt und ohnehin im Beiheft übersetzt abgedruckt wurden.

Im übrigen wird zwar auf gewohnt hohem Niveau musiziert, aber anders als beispielsweise die meisten der Beethoven-Sinfonien des Orchesters unter Norrington (deren Sechste mich beispielsweise live in Stuttgart regelrecht vom Hocker gerissen hat) ist das hier vorgelegte Resultat immer unterhalb von „atemberaubend“ – und wenn es auch nur daran liegen mag, daß dieses Orchester und sein Chefdirigent derart viele Sternstunden auf CD vorgelegt haben, daß man als Hörer und Fan von einer „nur“ sehr guten Aufführung zwangsläufig enttäuscht ist. Doch zumindest im Falle der c-Moll-Sinfonie gibt es erst aus jüngster Vergangenheit eine Referenzeinspielung auf CD – fulminant auf alten Instrumenten musiziert von der Cappella Coloniensis unter Sigiswald Kujken (cpo 999 932 2) und auch aufnahmetechnisch besser und farbiger geraten. Die Geigen des SWR-Orchesters spielen zwar sauberer spielen als die in Köln, trotzdem hat die Kuijken-Aufnahme eine Wärme und Tiefe, die dem Stuttgarter Mitschnitt oft abgeht. Bei fast gleicher Spieldauer haben schon die Ecksätze bei Kuijken mehr Feuer als bei Norrington, vielleicht auch, weil sich aufgrund der kürzeren Einschwingzeiten der alten Instrumente die Einzeltöne besser im Raum entfalten können. Das Andante nimmt Norrington in 5'55 Min., Kuijken in 7'16 Min., wobei sich zeigt daß ein flüssiges Tempo nicht immer vorteilhaft sein muß – bei Norrington schwingt die Musik kurzatmiger, bei Kuijken fließt sie weicher, ohne an Kontur zu verlieren. Das Menuett nimmt Norrington hingegen weit langsamer als Kuijken (7'25 gegenüber 6'04), obwohl der Satz „Allegro molto“ überschrieben ist – was bei Kuijken wie ein kühner Vorgriff auf Bruckner klingt, wirkt wie bei Norrington wie ein beschaulicher Besuch Mendelssohns bei Papa Haydn.

Ein quasi „didaktisches“ Anliegen dieser Produktion war es, zu zeigen, daß das Orchester in einer kleineren Besetzung mit einfach besetzten Bläsern und etwa 30 Streichern, wie sie Mendelssohn im Leipziger Gewandhaus kannte, ebenso zurecht kommt wie mit einer verdoppelten Besetzung, wie sie Mendelssohn auf Musikfestivals oder in London vorfand (mit etwa 60 Streichern und dann allen Bläserstimmen doppelt besetzt). Doch führt dies den Hörer durchaus in die Irre, denn beide Werke – die erste Sinfonie mit 42 und die fünfte Sinfonie mit 75 Musikern – wurden im gleichen Raum aufgenommen, nämlich in der Stuttgarter Liederhalle, und die Tonmeister gingen bei der CD-Produktion offenbar nicht davon aus, die Maximum-Pegel beider Werke in Relation zu setzen. So klingt die Fünfte zwar geringfügig fülliger und weiter weg, aber in der Dynamik nicht sonderlich anders als die Erste. Im Beiheft führt sogar Norrington selbst die Leser in die Irre: Er betont zwar völlig zu Recht, daß das Leipziger Gewandhausorchester wie alle Orchester des 19. Jahrhunderts die Geigengruppen antiphonal gegenüber auf dem Podium plaziert hat und erwähnt auch, daß die „Musiker des Gewandhauses bei Aufführungen gestanden haben“. Doch in zeitgenössischen Abbildungen ist zu erkennen, daß dies nur die Violinen und Violen (und vielleicht Kontrabässe) betraf. Viel wichtiger wäre dann jedoch die Frage, welche Geigengruppe wo stand. Denn tatsächlich hat Daniel J. Koury in seiner bahnbrechenden Studie Orchestral Performance Practices in the Nineteenth Century (UMI 1986, ISBN 0-8357-1649-X, Seite 206f) nachgewiesen, daß zu Mendelssohns Zeit und noch bis hin zu Gustav Mahlers Kapellmeisterzeit (1887) die zweiten Violinen links vom Dirigenten standen, die ersten rechts, also genau anders herum als heute! Dadurch klangen die ersten Geigen und Violen etwas dumpfer und voller, während sich die zweiten Violinen besser von den hinter ihnen sitzenden Celli und Bässen abhoben. Eine solche Aufstellung haben meines Wissens heute nur wenige gewagt (Claudio Abbado gehört zu ihnen!). Eine Orchesteraufstellung muß natürlich immer die realen Verhältnisse im Raum berücksichtigen. Ein großer Saal wie die Liederhalle in Stuttgart benötigt eigentlich ein recht großes Orchester, um den gesamten Raum klanglich zu füllen, doch ein kleineres Orchester klingt dank der vorzüglichen Akustik ebenfalls sehr gut. Deshalb wirkt die Erörterung solcher Besetzungsfragen, wie sie hier ja teilweise zum Gegenstand der Produktion gemacht wurden, eigenartig.

Im übrigen wird die Reformations-Sinfonie etwas spannender musiziert als die erste Sinfonie; Norrington hät sich endlich einmal an die vielen Tempo-Nuancen im ersten Satz in der üblichen Partitur. Die kritische Neuausgabe nebst Revisionsbericht steht noch aus und dürfte hier wohl einiges korrigieren. Andererseits macht Norrington die Lage unnötig kompliziert, da er das Seitenthema des Allegro-Hauptteils wesentlich langsamer nimmt, ohne daß die üblicherweise verwendete Partitur-Ausgabe dort einen Tempowechsel verzeichnet. Interessiert hätte mich auch, ob Norrington ungeachtet der größeren Besetzung heutige oder eng mensurierte klassische Posaunen herangezogen und wie er die strittige Frage des Serpents im Finale gelöst hat: Mendelssohn schrieb Kontrafagott und Serpent gemeinsam vor, doch auf das Serpent wird heute in der Regel verzichtet. Das Beiheft gibt hier keinen Aufschluß. Und schließlich finde ich es immer störend und überflüssig, wenn man Live-Aufnahmen auch noch Beifall mitgibt.

Dr. Benjamin G. Cohrs [13.06.2005]

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Komponisten und Werke der Einspielung

Tr.Komponist/Werkhh:mm:ss
CD/SACD 1
Felix Mendelssohn Bartholdy
1Sinfonie Nr. 1 c-Moll op. 11 00:32:17
5Sinfonie Nr. 5 d-Moll op. 107 (Reformations-Sinfonie) 00:29:57
6Konzerteinführung von Roger Norrington in englischer Sprache 00:09:28

Interpreten der Einspielung

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