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Besprechung CD

DG 474 380-2

2 CD • 1h 26min • 2002

18.11.2003

Künstlerische Qualität:
Künstlerische Qualität: 9
Klangqualität:
Klangqualität: 9
Gesamteindruck:
Gesamteindruck: 9

Dieser Mahler-Einspielung gebührt ohne Zweifel ganz besondere Aufmerksamkeit. Gilbert Kaplan ist ein profunder Kenner von Mahlers Zweiter, ein Werk, das ihm, wie er selbst bekannte, in einer tiefen persönlichen Krise buchstäblich das Leben gerettet hat. Daraufhin hat er eine einzigartige Sammler-, Forscher- und Dirigenten-Tätigkeit begonnen, die besonders diesem Werk gilt, aber auch dem Schaffen und der Person Mahlers insgesamt verpflichtet ist. 1982 hat er die Zweite erstmals in New York aufgeführt und sie seitdem bei Orchestern in aller Welt dirigiert. In der Tat dürfte inzwischen kaum ein Dirigent das Stück so oft dirigiert haben wie er. Fünf Jahre später hat er erstmals eine CD-Einspielung produziert, damals mit dem London Symphony Orchestra (Pickwick IMP Classics DPCD 910). Sie wurde zum meistverkauften Mahler-Album aller Zeiten. Mich persönlich hat eine im NDR übertragene Aufführung Kaplans mit dem NDR-Orchester aus der Michaelis-Kirche besonders berührt.

Nun, praktisch zum 20. Jahrestag seiner schicksalhaften Mahler-Begegnung, empfing Kaplan sozusagen die höchsten Weihen des Establishments: Inzwischen hat er sich als Quellenforscher etabliert und eine kritische Neuausgabe erarbeitet, die etliche Fehler korrigiert und insbesondere Mahlers letztwillige Korrekturen von 1910 erstmals in den Notentext integriert; sie erscheint in der Mahler-Gesamtausgabe. Vor allem jedoch hat er das Werk mit den Wiener Philharmonikern im Goldenen großen Musikvereinssaal mit den Mitteln modernster Technik nochmals aufgenommen und bei der Deutschen Grammophon veröffentlicht. Es gibt zwar viele Doppelbegabungen als Dirigent und Forscher, die nach jahrzehntelanger wissenschaftlicher Arbeit maßgebliche Neuausgaben großer Werke vorlegen; ein derartiger Ritterschlag durch dieses Traditions-Orchester (das im Umgang mit Dirigenten als nicht gerade zimperlich gilt) ist dennoch singulär und spricht für sich. Ein Vergleich beider Versionen liegt nahe, führte mich aber zu keiner Bevorzugung der einen oder anderen Aufnahme. Uneingeschränkt darf man die Neueinspielung nicht über den grünen Klee loben: Vom Gesamteindruck her wirkt sie noch mehr darauf bedacht, alle Details hörbar zu machen, die Partitur quasi plastisch vor dem inneren Auge auszubreiten, doch zugleich geht – vielleicht auch aufgrund der längeren Aufführungsdauer – einiges an Spontaneität verloren. Sicher gibt Kaplan auch hier sein ganzes Herzblut, aber das Resultat ist nicht so unmittelbar mitreißend wie bei seiner früheren Aufnahme. Das hat aber sicher auch mit dem Klangeindruck von der CD zu tun hat, auf die sich hier auch meine Einschätzung bezieht. Die SACD-Version, die ich kürzlich in voller Lautstärke hören konnte, erzeugt einen völlig anderen, unerhört räumlichen Eindruck: Da ist man geradezu mittendrin im Klangkosmos. Wer also die Möglichkeit hat, sollte die SACD und nicht die CD erstehen.

Andererseits bin ich mit einigen Elementen der alten Aufnahme doch glücklicher. Mir gefallen Benita Valente und Maureen Forrester vom Timbre her besser als Latonia Moore und Nadja Michael. Auch die damals separat aufgenommenen und zugespielten echten Glocken der Yale Universität machen einen viel spirituelleren Eindruck als die profanen Röhrenglocken, die nun verwendet wurden. Die Wiener Philharmoniker präsentieren sich hier in Bestform. Die Streicher halten sich mit dem Vibrato erfreulich zurück, kultivieren ein üppiges Portamento, der Gesamtklang ist sehr durchhörbar. Verblüffend ist allerdings die Wirkung der Blechbläser: Die Posaunen scheinen eher von links, die Hörner von rechts zu kommen. Welche Aufstellung hat Kaplan da verwirklicht? Das Booklet gibt darüber keinen Aufschluß. Um die traditionelle Wiener Aufstellung mit den Bässen in einer Reihe hinter dem Orchester kann es sich jedenfalls kaum handeln, zumal die zweiten Violinen – meines Wissens entgegen Mahlers eigenen Vorgaben – nicht rechts außen sitzen, sondern meinem Eindruck nach die Violen.

Insgesamt ist es bedauerlich, daß Kaplan bestimmte Aspekte einer historisch informierten Aufführungspraxis nicht berücksichtigt hat. Dabei darf man nicht vergessen, daß die Wiener Philharmoniker von heute durchaus nicht sehr viel näher am Klang des Orchesters zu Mahlers Zeiten dran sind – sieht man einmal von der Streicher-Tradition ab, die aber weniger zum Gesamteindruck beiträgt als die Bläser. Dazu ist zu sagen, daß die alte konische „Wiener Flöte“ erst ab 1905 (übrigens auf Insistieren Mahlers) allmählich aus dem Orchester verschwand, die heute verwendete „Wiener Trompete“ aber erst eine Frucht der dreißiger Jahre ist (Mahler schrieb ausdrücklich für große Trompete in F), und daß vor allem die Blechblasinstrumente damals um gut ein Drittel kleiner und weniger stark waren. Einen guten Eindruck davon vermitteln die heute verfügbaren, klanglich hinreichenden historischen Aufnahmen der Wiener Philharmoniker, beispielsweise unter Franz Schalk oder Bruno Walter, aus den 20er und 30er Jahren. Vom hier präsentierten Ergebnis her scheint das heutige Mahler-Spiel der Wiener Philharmoniker immer noch dem Einfluß amerikanischer Dirigenten wie Leonard Bernstein näher zu stehen als der eigenen, älteren Tradition des Orchesters. Doch auch wenn für mich persönlich einige Wünsche an Interpretation und Aufführungspraxis unerfüllt bleiben, hat Gilbert Kaplan mit den Wiener Philharmonikern hier eine eindrucksvolle, sorgsam erarbeitete und erneut bedeutende Neueinspielung der Zweiten vorgelegt, die jeder Mahler-Liebhaber unbedingt in seiner Sammlung haben sollte.

Dr. Benjamin G. Cohrs [18.11.2003]

Komponisten und Werke der Einspielung

Tr.Komponist/Werkhh:mm:ss
CD/SACD 1
Gustav Mahler
1Sinfonie Nr. 2 c-Moll (mit Sopransolo, Altsolo und gemischtem Chor nach Worten aus "Des Knaben Wunderhorn" und von Klopstock/Mahler)

Interpreten der Einspielung

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